Gerhard Bohner gilt als eine/r der Pionier:innen des zeitgenössischen Tanzes. Wie auch Pina Bausch und Johann Kresnik begann er in den 70er Jahren, nach neuen choreografischen Ausdrucksformen jenseits einer Ballettästhetik zu forschen und setzte diese Suche bis zu seinem zu frühen Tod 1992 fort.
Im Zentrum des Abends „past forward“ stand Gerhard Bohners choreografisches Spätwerk „Angst und Geometrie", eine Auftragsarbeit des Hebbel Theater Berlin, die 1990 zur Uraufführung kam.
28 Jahre später hat das Theater Bielefeld mit seinem Ensemble TANZ Bielefeld (Künstlerische Leitung: Simone Sandroni) das Stück mit dem ehemaligen Bohner-Tänzer Petr Tyc neu einstudiert.
Ergänzt wurde die Rekonstruktion von den Arbeiten dreier zeitgenössischer Choreograf:innen: Die Neukreationen von Simone Sandroni, Overhead Project und Lali Ayguadé setzten sich auf jeweils ganz eigene Weise mit Bohners Choreografie bzw. den ihr immanenten Themen und Formen auseinander.
Im Zusammenspiel der unterschiedlichen choreografischen Handschriften wurde so ein Stück Tanzgeschichte sichtbar und zugleich eine Brücke zu aktuellen Strömungen der internationalen Tanzszene geschlagen.
Künstlerische Gesamtleitung – Simone Sandroni (Künstlerische Leitung und Chefchoreograf TANZ Bielefeld)
Angst und Geometrie (Uraufführung am 30. August 1990 am Hebbel-Theater Berlin)
Choreografie – Gerhard Bohner
Ausstattung – Andrea Schmidt-Futterer / Mitarbeit – Gerhard Gollnhofer
Musik – Walter Zimmerman (Lokale Musik: Ephemer – für Klaviertrio // Leichte Tänze, 10 fränkische Tänze – sublimiert für Streichquartett // Stille Tänzer, Keuper – für Streichquartett)
Rekonstruktion – Petr Tyc (Choreografie), Jürgen Kirner, Andrea Schmidt-Futterer (Ausstattung), Ralf Scholz (Licht)
Mit – Tommaso Balbo, Ines Carijò (Alexandra Blondeau), Jacob Gómez Ruiz, Noriko Nishidate, Tiemen Stemerding, Johanna Wernmo, Elvira Zúñiga Porras
Zerissene Herzen
Choreografie – Simone Sandroni
Musik – Rembrandt Frerichs
Mit – Alexandra Blondeau, Youngjun Shin
Prequel
Choreografie – Overhead Project
Komposition und Sounddesign – Simon Bauer
Mit – Tommaso Balbo, Brecht Bovijn, Tiemen Stemerding, Johanna Wernmo, Elvira Zúñiga Porras (vor der Wand)
Alexandra Blondeau, Jacob Gómez Ruiz, Noriko Nishidate (hinter der Wand)
Those Things That Are Hidden
Choreografie – Lali Ayguadé
Musik – Ben Frost, Paul Haslinger, Miguel Marín
Mit – Tommaso Balbo, Alexandra Blondeau, Brecht Bovijn, Ines Carijò, Jacob Gómez Ruiz, Noriko Nishidate, Youngjun Shin, Tiemen Stemerding, Johanna Wernmo, Elvira Zúñiga Porras
Bühne und Kostüme – Jürgen Kirner
Licht – Ralf Scholz
Dramaturgie – Janett Metzger
Choreografische Assistenz und Trainingsleitung – Sarah Deltenre
Tanz-Korrepetition – Evelyn Knorre-Bogdan
Dramaturgische Mitarbeit – Eva Wagner
SIMONE SANDRONI
Zu Beginn der Spielzeit 2015/16 hat der italienische Choreograf Simone Sandroni die künstlerische Leitung des Tanztheaters Bielefeld übernommen.
Simone Sandroni ist Mitbegründer der Tanzkompanie Ultima Vez, mit der er von 1987 bis 1992 in Brüssel arbeitete. Ab 1993 brachte er dort mit seiner eigenen Gruppe Ernesto erste eigene Choreografien zur Uraufführung. 1996 gründete er in Prag gemeinsam mit Lenka Flory die bis heute bestehende internationale Tanzkompanie Déjà Donné, die seit 2006 ihren Hauptsitz in Perugia / Italien hat. Simone Sandroni kreierte mehr als zehn Tanzabende für Déjà Donné, mit denen er in 26 Ländern in Europa, Nord- und Südamerika sowie in Asien auf Tournee ging. Simone Sandroni ist außerdem international als Gastchoreograf tätig. So schuf er neue Stücke u.a. für das Nationaltheater Prag, das »Festival de Beweeging« in Antwerpen, das »Four Chambers Dance Project« in Toronto, das Luzerner Theater, das Musikkonservatorium Bratislava, die »Lublin Dance Company«, sowie seit 2007 regelmäßig für das Bayerische Staatsballett in München. 2009 entwickelte er für das Tanztheater Bielefeld die Choreografie The Tempting Innocence, und war am 7. und 8. März bei der Tanzgala Ein Fest mit Freunden vertreten. Neben seiner choreografischen Arbeit gibt er Workshops und Meisterklassen in ganz Europa und den USA.
PETR TYC
Petr Tyc erhielt seine Ausbildung am Konservatorium für Tanz in Prag. Er studierte am Merce Cunningham Studio in New York sowie an der Kunstakademie in Prag, wo er 1983 ein Choreografie-Studium abschloss. Sein erstes Engagement (1983-92) erhielt er am Prager Kammerballett unter der Künstlerischen Leitung von Pavel Šmok. Anschließend ging er für zwei Jahre an die Rambert Dance Company in London. Petr Tyc kreierte und tanzte in Stücken von Pavel Šmok, Gerhard Bohner, Jiří Kylián, Simone Sandroni, Christopher Bruce, Richard Alston, Siobhan Davies u.a. Seit 1994 arbeitet er freischaffend, schuf über 20 teils abendfüllende Choreografien und führte Regie in zwei Opern- und vier Theaterproduktionen. Es entstanden Werke u.a. für die Staatsoper in Prag, das internationale Musik- und Kulturfestival Prager Frühling sowie das größte polnische Festival für zeitgenössische Musik Warschauer Herbst. Petr Tyc unterrichtete Tanz an den Fakultäten für Musik und Tanz sowie Theater der Akademie für Performing Arts in Prag.
OVERHEAD PROJECT
Tim Behren und Florian Patschovsky sind seit 2007 als das Akrobaten- und Choreografen-Duo Overhead Project aktiv. Ihre Stücke entwickeln sie an der Grenze zwischen zeitgenössischem Zirkus, Tanz und Performance. Wo Provokation auf Vertrauen trifft, Zusammenhalt auf Abstoßung und Höhe auf Fallen, zerlegen sie in ihren Choreografien das, was zwischen zwei Körpern, zwischen zwei Menschen liegt.
Ausgebildet wurden Tim Behren und Florian Patschovsky an der Ecole Supérieure des Arts du Cirque in Brüssel. 2008 wurden sie Mitglieder in der künstlerischen Leitung der Freiburger Kompanie HeadFeedHands und erweiterten das Ensemble um den Standort Köln. Gemeinsam entwickelten sie eine Bühnensprache, die sich, fernab vom klassischen Zirkus, zu einer neuartigen, an den französischen Nouveau Cirque angelehnten Bewegungskunst formierte. Für HeadFeedHands entstanden insgesamt drei große Tourneeproduktionen, darunter [How To Be] Almost There (2011). Mit dem hieraus entwickelten Duett gewannen sie mehrere internationale Auszeichnungen und Publikumspreise, unter anderem den ersten Jury- und Publikumspreis des No-Ballet Choreographiewettbewerbs Ludwigshafen (2011) sowie den ersten Jury- und Publikumspreis beim SoloDuo Festival Budapest (2012).
Unter dem Namen Overhead Project debütierte das Duo 2012 mit der Kurzchoreografie Eh La. 2014 schufen sie in Zusammenarbeit mit der israelischen Choreografin Reut Shemesh The boy who cries wolf, das für den Kölner Tanzpreis (2014) nominiert wurde. Parallel zu ihrer choreografischen Arbeit tanzten Tim Behren und Florian Patschovsky immer wieder für andere Kompanien, etwa für Stephanie Thiersch/MOUVOIR und DOSSIER 3-D-Poetry/Marion Dieterle.
2015 entstand mit Carnival of the Body, das den Showsport Wrestling als martialische Körperinszenierung thematisiert, das erste abendfüllende Stück, in dem Tim Behren und Florian Patschovsky selbst tanzen. Ebenfalls 2015 schufen sie PENUMBRA, ihre erste Kreation für eine größere Tanzkompanie, die Dance Company Nanine Linning am Theater Heidelberg. In der Saison 2015/16 kam die choreografische Auftragsarbeit FRANCIS BACON für die Kompanie des Konzert Theater Bern unter der Leitung von Estefania Miranda heraus. 2017 feierten RAUSCH am Theaterhaus Jena, X [iks], eine zeitgenössische Zirkusperformance für zwei Trapez-Akrobaten und einen Schlagzeuger im Zirkus Paletti in Mannheim, und SURROUND im LOFFT Leipzig ihre Premiere.
2015 erhielten Overhead Project für ihr bisheriges herausragendes künstlerisches Schaffen den Förderpreis des Landes Nordrhein-Westfalen. Zwei Jahre später wurden sie mit den Tanz- und Theaterpreisen der Stadt Stuttgart und des Landes Baden-Württemberg geehrt. Tim Behren und Florian Patschovsky sind Mitbegründer der ehrenfeldstudios in Köln, einem interdisziplinären Produktionsort für Tanz, Performance, zeitgenössischen Zirkus und Medienkunst. Im Katalog der Tanzplattform Deutschland 2016 wurden sie als eines von 55 Ensembles vorgestellt, die in den letzten Jahren maßgebliche Impulse in der freien Tanzszene in Deutschland gesetzt haben.
LALI AYGUADÉ
Lali Ayguadé wurde 1980 in Barcelona geboren. Sie studierte am Conservatori del Liceu sowie am Institut del Teatre in Barcelona, ehe sie 1997 zu PARTS in Belgien wechselte. In ihrem vierten Ausbildungsjahr schuf sie, unter Anleitung des Choreografen Wim Vandekeybus, ihr erstes eigenes Solo Silence.
Nachdem sie ihre Tanzausbildung abgeschlossen hatte, tanzte sie zunächst für die Publik Eye Company in Dänemark unter der Leitung von Carmen Mehnert. 2003 erhielt sie ein Engagement bei der Akram Khan Company, wo sie in den Produktionen Kaash, Ma, Bahok – einer Kooperation mit dem Nationalballett China – Vertical Road und Confluence mitwirkte. Sie arbeitete mit den Choreografen Roberto Olivan, Hofesh Shechter, Marcos Morau von der spanischen Kompanie La Veronal sowie der Zirkusgruppe Baró d’Evel zusammen.
2005 kreierte Lali Ayguadé gemeinsam mit einem der Gründer von Les Slovaks, Anton Lachky, das Stück Twice Read. Weitere Werke entstanden aus der Zusammenarbeit mit dem Akrobaten und Clown Joan Ramon Graell, mit Young Jin Kim, Joan Català und Julian Sicard. 2015 entstand ihr erstes abendfüllendes Stück Kokoro (japanisch: Herz, Seele), gefolgt 2017 von iU an Mi.
2010 wurde Lali Ayguadé vom National Dance Awards Critic’s Circle in Großbritannien in der Kategorie moderner Tanz für ihre »Herausragende Performance« nominiert, 2014 für die »Beste Choreografie«. Die Jury von recomana.cat in Barcelona nominierte sie als »Beste Tänzerin«. In dem Kurzfilm Timecode von Juanjo Gimenez, der die Goldene Palme beim Festival in Cannes, den Goya Award sowie den Gaudí Award gewann und für die Academy Awards 2017 nominiert war, spielte sie die Hauptrolle. Die Ergebnisse ihrer künstlerischen Recherche gibt Lali Ayguadé in Workshops auf der ganzen Welt weiter.
Das Interview entstand im Rahmen des TANZFONDS ERBE-Projekts „Das Triadische Ballett“, das die Akademie der Künste 2014 in Kooperation mit dem Bayerischen Staatsballett II realisierte.