Der Berliner Tänzer Julius Hans Spiegel machte sich in den 1920er Jahren mit seinen „exotischen Tänzen“ in ganz Europa einen Namen. Viele europäische Tanzschaffende, darunter auch prominente Figuren wie Mary Wigman, wandten sich zu dieser Zeit außereuropäischen Kulturen zu, um neue Körper- und Bewegungsbilder zu finden.
Wie die Geschichte von Julius Hans Spiegel verschwand auch die Tatsache aus dem Bewusstsein, dass außereuropäische Körpertechniken zentrale Referenz für die Tanzmoderne waren, deren Erbe den Tanz bis heute prägt.
Das Julius-Hans-Spiegel-Zentrum, das von Mitte Januar bis Anfang April 2014 seine Türen im Theater Freiburg öffnete, beschäftigte sich in Performances, Filmen, Vorträgen, Künstler:innen-Gesprächen, Workshops und Führungen mit diesem vergessenen Kapitel der deutschen Tanzgeschichte. Fünf Choreograf:innen aus Südafrika, Algerien, Indonesien, Niederlanden und Österreich entwickelten ausgehend von Archiv-Materialien Performances, die diese Geschichte weiter- und umschrieben, vergessene Aspekte ausgruben und die Blickrichtung umkehrten: die Moderne exotisieren.
In der Dokumentation des Abschlussfestivals (siehe oben) sprechen die Künstlerische Leitung – Anna Wagner und Eike Wittrock – sowie die beteiligten Künstler:innen – Nacera Belaza, Eko Supriyanto, Nelisiwe Xaba, Florentina Holzinger & Vincent Riebeek – über verschiedene Facetten des Exotismus und ihren Zugang zum Tanzerbe. Darüber hinaus werden kurze Ausschnitte aus allen Performances gezeigt.
Künstlerische Leitung – Anna Wagner (Kuratorin für Tanz Theater Freiburg); Eike Wittrock (Tanzhistoriker, Dramaturg und Kurator)
Julius Hans Spiegel wurde als Kind deutsch-jüdischer Eltern 1891 in Berlin geboren. Im Alter von drei Jahren verlor er aufgrund einer Krankheit sein Gehör. Nach dem frühen Tod seiner Eltern wuchs er im Internat der „Königlichen Taubstummenanstalt zu Berlin“ auf. Er studierte Malerei in Berlin und München und begegnete dann angeblich einem javanischen Prinzen, der ihm das Tanzen beibrachte und mit ihm möglicherweise eine Beziehung führte.
Dieser überließ Spiegel nach seinem Tod eine Sammlung asiatischer Masken und Gewänder. Des Weiteren studierte er Tanz bei Raden Mas Jodjana und wahrscheinlich bei Max Terpis, Leiter des Balletts der Berliner Staatstheater. Ab Beginn der 1920er Jahre trat Spiegel in Kabaretts, Varietés und bei Privatveranstaltungen als Grotesk- bzw. Exotik-Tänzer, meist ohne musikalische Begleitung, auf; darunter 1926 in den „Sturm-Abenden“ der Expressionisten in Berlin, in Magnus Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft, in Jane Marnacs „Shanghai“-Revue im Pariser Apollo Theater wie auch als Tanzeinlage bei Vorführungen von Lola Kreutzbergs verschollenem Kultfilm „Bali, das Wunderland“ (1927).
Gastspiele führten ihn nach Mailand und Rom, wo er von den Futuristen gefördert wurde. Seine Interpretationen von japanischen, indischen, indonesischen und chinesischen Tänzen in originalen Masken und Kostümen zeichneten sich durch intensive Rhythmik und expressive Gebärden aus.
Als homosexueller jüdischer Künstler floh er 1934 aus Deutschland und ließ sich auf Capri nieder. Dort wurde er zu einer lokalen Berühmtheit und einem Psotkartenmotiv. Er verdiente einen Lebensunterhalt mit Tanzunterricht für junge Amerikanerinnen und dem Verkauf seiner Gemälde, war Werbeträger für „Gaggia“-Kaffeemaschinen und „Carpano“-Wermut und Anlaufpunkt für schwule Touristen auf Capri.
Er war befreundet mit dem britischen Balletttänzer Anton Dolin, Thomas Mann und dem Eislaufpaar Ernst und Maxi Baier und schloss Bekanntschaft mit Hollywoodgrößen wie Liz Taylor, Orson Wells und Clark Gable. 1974 verstarb er auf Capri.
Seine Sammlung von ostasiatischen und afrikanischen Masken und Kostümen beherbergt heute das Staatliche Museum für Völkerkunde in München, der künstlerische Nachlass – bestehend aus Fotografien und Briefen – befindet sich im Deutschen Tanzarchiv in Köln.
ARCHIVARBEIT II
Ein Tanzstück
Während ihrer Residenz im Julius-Hans-Spiegel-Zentrum im Theater Freiburg hat Nelisiwe Xaba einen Tanz-Abend entwickelt, der sich an Programmen von Tänzerinnen wie Mary Wigman und Sent M’ahesa orientiert. Diese Pionierinnen der Moderne zeigten in den 1910er und 1920er Jahren stets eine Reihe kurzer Stücke mit Musikbegleitung. An einem Abend durchschritten sie so weit auseinanderliegende Welten und Zeiten, beziehungsweise ihre Imagination davon: Nach einem „Tempeltanz“ folgte ein „Indischer Tanz“, eine „Arabeske“ oder ein „Siamesischer Tanz“.
Die aus Johannesburg stammende Künstlerin Nelisiwe Xaba, die zu einer der erfolgreichsten Choreografinnen Südafrikas gehört, setzt sich in ihren Arbeiten konstant mit dem europäischen Bild des „afrikanischen Tanzes“ auseinander. In ihrem Tanz-Abend mit „Fremden Tänzen“ dreht sie die Perspektive um und exotisiert den Schwarzwald.
Nelisiwe Xaba
Die Tänzerin und Choreografin Nelisiwe Xaba wurde in Soweto, Südafrika geboren. Sie erhielt ihre Tanzausbildung in Johannisburg und London. Bevor sie begann eigene Choreografien zu entwickeln tanzte sie in Südafrika in der Pact Dance Company und arbeitete u.a. mit der Choreografin Robyn Orlyn. Mittlerweile wird ihre Arbeit von der renommierten südafrikanischen Galerie Goodman vertreten.