PROJEKTE

> DOKUMENTATION 2013

in der Dokumentation des Abschlussfestivals kommen Kurator:innen und Choreograf:innen zu Wort.

Theater Freiburg:
Julius-Hans-Spiegel-Zentrum

Der Berliner Tänzer Julius Hans Spiegel machte sich in den 1920er Jahren mit seinen „exotischen Tänzen“ in ganz Europa einen Namen. Viele europäische Tanzschaffende, darunter auch prominente Figuren wie Mary Wigman, wandten sich zu dieser Zeit außereuropäischen Kulturen zu, um neue Körper- und Bewegungsbilder zu finden.

Wie die Geschichte von Julius Hans Spiegel verschwand auch die Tatsache aus dem Bewusstsein, dass außereuropäische Körpertechniken zentrale Referenz für die Tanzmoderne waren, deren Erbe den Tanz bis heute prägt.

Das Julius-Hans-Spiegel-Zentrum, das von Mitte Januar bis Anfang April 2014 seine Türen im Theater Freiburg öffnete, beschäftigte sich in Performances, Filmen, Vorträgen, Künstler:innen-Gesprächen, Workshops und Führungen mit diesem vergessenen Kapitel der deutschen Tanzgeschichte. Fünf Choreograf:innen aus Südafrika, Algerien, Indonesien, Niederlanden und Österreich entwickelten ausgehend von Archiv-Materialien Performances, die diese Geschichte weiter- und umschrieben, vergessene Aspekte ausgruben und die Blickrichtung umkehrten: die Moderne exotisieren.

In der Dokumentation des Abschlussfestivals (siehe oben) sprechen die Künstlerische Leitung – Anna Wagner und Eike Wittrock – sowie die beteiligten Künstler:innen – Nacera Belaza, Eko Supriyanto, Nelisiwe Xaba, Florentina Holzinger & Vincent Riebeek – über verschiedene Facetten des Exotismus und ihren Zugang zum Tanzerbe. Darüber hinaus werden kurze Ausschnitte aus allen Performances gezeigt.

Künstlerische Leitung – Anna Wagner (Kuratorin für Tanz Theater Freiburg); Eike Wittrock (Tanzhistoriker, Dramaturg und Kurator)

Julius Hans Spiegel
MEHR
Sub Topic Image 1:Julius-Hans-Spiegel-Zentrum

Julius Hans Spiegel wurde als Kind deutsch-jüdischer Eltern 1891 in Berlin geboren. Im Alter von drei Jahren verlor er aufgrund einer Krankheit sein Gehör. Nach dem frühen Tod seiner Eltern wuchs er im Internat der „Königlichen Taubstummenanstalt zu Berlin“ auf. Er studierte Malerei in Berlin und München und begegnete dann angeblich einem javanischen Prinzen, der ihm das Tanzen beibrachte und mit ihm möglicherweise eine Beziehung führte.

Dieser überließ Spiegel nach seinem Tod eine Sammlung asiatischer Masken und Gewänder. Des Weiteren studierte er Tanz bei Raden Mas Jodjana und wahrscheinlich bei Max Terpis, Leiter des Balletts der Berliner Staatstheater. Ab Beginn der 1920er Jahre trat Spiegel in Kabaretts, Varietés und bei Privatveranstaltungen als Grotesk- bzw. Exotik-Tänzer, meist ohne musikalische Begleitung, auf; darunter 1926 in den „Sturm-Abenden“ der Expressionisten in Berlin, in Magnus Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft, in Jane Marnacs „Shanghai“-Revue im Pariser Apollo Theater wie auch als Tanzeinlage bei Vorführungen von Lola Kreutzbergs verschollenem Kultfilm „Bali, das Wunderland“ (1927).

Gastspiele führten ihn nach Mailand und Rom, wo er von den Futuristen gefördert wurde. Seine Interpretationen von japanischen, indischen, indonesischen und chinesischen Tänzen in originalen Masken und Kostümen zeichneten sich durch intensive Rhythmik und expressive Gebärden aus.

Als homosexueller jüdischer Künstler floh er 1934 aus Deutschland und ließ sich auf Capri nieder. Dort wurde er zu einer lokalen Berühmtheit und einem Psotkartenmotiv. Er verdiente einen Lebensunterhalt mit Tanzunterricht für junge Amerikanerinnen und dem Verkauf seiner Gemälde, war Werbeträger für „Gaggia“-Kaffeemaschinen und „Carpano“-Wermut und Anlaufpunkt für schwule Touristen auf Capri.

Er war befreundet mit dem britischen Balletttänzer Anton Dolin, Thomas Mann und dem Eislaufpaar Ernst und Maxi Baier und schloss Bekanntschaft mit Hollywoodgrößen wie Liz Taylor, Orson Wells und Clark Gable. 1974 verstarb er auf Capri.

Seine Sammlung von ostasiatischen und afrikanischen Masken und Kostümen beherbergt heute das Staatliche Museum für Völkerkunde in München, der künstlerische Nachlass – bestehend aus Fotografien und Briefen – befindet sich im Deutschen Tanzarchiv in Köln.

Nacera Belaza
MEHR

ARCHIV-ARBEIT I

Nacera Belaza

mit – Dalila & Nacera Belaza

Choreografie – Nacera Belaza
Sound – Nacera Belaza

Premiere am 5. April 2014, Julius-Hans-Spiegel-Zentrum

Ritual-Recherche

Nacera Belazas Choreografien ziehen den Zuschauer in einen Sog der Bewegungswahrnehmung. Ob als Solo, Duo oder als Gruppenarbeit, ihre repetitiven und meditativen Tänze schaffen einen Raum der Konzentration und des Widerhalls, in dem sich Schwingungen von Körper zu Körper übertragen. Der Kreis bildet dabei eine zentrale choreografische Figur – ob als kreiselnde Drehung des einzelnen Körpers oder als Bewegung einer ganzen Gruppe.

Im Julius-Hans-Spiegel-Zentrum hat sich Nacera Belaza mit der Ästhetik Mary Wigmans beschäftigt und ihre eigenen choreografischen Recherchen, die sie zu den verschiedenen rituellen Tänzen in Nordafrika durchgeführt hat, durch Wigman neu gelesen. Im Abschlussfestival präsentierte sie eine Vorschau auf ihr Stück „Les Oiseaux“, das im Juni 2014 im Festival „Montpellier Danse“ Premiere feierte und durch die Recherche im Julius-Hans-Spiegel-Zentrum mitgeprägt wurde.

Nacera Belaza

Nacera Belaza wurde in Medea, Algerien, geboren. Im Alter von fünf Jahren zog sie mit ihrer Familie nach Frankreich. Nach dem Studium der Literaturwissenschaft widmete sie sich dem Tanz und gründete 1989 ihre eigene Kompanie. Ihre Arbeit „Le Cri“, mit der sie ihre Recherche über den Dialog zwischen Ritualen und zeitgenössischer choreografischer Komposition begann, wurde in Frankreich als „Choreografische Entdeckung des Jahres 2008“ ausgezeichnet. „Les Sentinelles“, „Le Temp scellé“ und „Le Trait“ folgen ebenfalls der Suche nach einem hypnotischen Zugang zu Bewegung.
Nacera Belazas Stücke werden regelmäßig bei renommierten Festivals gezeigt.

Nelisiwe Xaba
MEHR

Nelisiwe Xaba

ARCHIVARBEIT II

Ein Tanzstück

Während ihrer Residenz im Julius-Hans-Spiegel-Zentrum im Theater Freiburg hat Nelisiwe Xaba einen Tanz-Abend entwickelt, der sich an Programmen von Tänzerinnen wie Mary Wigman und Sent M’ahesa orientiert. Diese Pionierinnen der Moderne zeigten in den 1910er und 1920er Jahren stets eine Reihe kurzer Stücke mit Musikbegleitung. An einem Abend durchschritten sie so weit auseinanderliegende Welten und Zeiten, beziehungsweise ihre Imagination davon: Nach einem „Tempeltanz“ folgte ein „Indischer Tanz“, eine „Arabeske“ oder ein „Siamesischer Tanz“.

Die aus Johannesburg stammende Künstlerin Nelisiwe Xaba, die zu einer der erfolgreichsten Choreografinnen Südafrikas gehört, setzt sich in ihren Arbeiten konstant mit dem europäischen Bild des „afrikanischen Tanzes“ auseinander. In ihrem Tanz-Abend mit „Fremden Tänzen“ dreht sie die Perspektive um und exotisiert den Schwarzwald.

Nelisiwe Xaba

Die Tänzerin und Choreografin Nelisiwe Xaba wurde in Soweto, Südafrika geboren. Sie erhielt ihre Tanzausbildung in Johannisburg und London. Bevor sie begann eigene Choreografien zu entwickeln tanzte sie in Südafrika in der Pact Dance Company und arbeitete u.a. mit der Choreografin Robyn Orlyn. Mittlerweile wird ihre Arbeit von der renommierten südafrikanischen Galerie Goodman vertreten.

Florentina Holzinger und Vincent Riebeek
MEHR

Archiv-Arbeiten III-IV

Florentina Holzinger & Vincent Riebeek

EIN SCHÖNHEITSABEND IN DREI
AKTEN:
TÄNZE DES LASTERS, DES GRAUENS
UND DER EKSTASE

mit – Anneli Binder, Florentina Holzinger & Vincent Riebeek
Choreografie – Florentina Holzinger & Vincent Riebeek
Kostüm & Make Up – Franziska Jacob
Ballettmeisterin – Anneli Binder

Premiere am 15. März 2014, Julius-Hans-Spiegel-Zentrum

Choreografenpaare

Florentina Holzinger und Vincent Riebeek sind seit Anfang Februar Artists in Residence am Theater Freiburg. In der Sammlung des Julius-Hans-Spiegel-Zentrums sind sie auf eine Reihe von Tänzer-Paaren der Moderne gestoßen, die als unbewusste Vorbilder ihrer radikalen collagehaften Performance-Abende gelten können. Nun überblenden Holzinger und Riebeek in ihren Arbeiten für das Julius-Hans-Spiegel-Zentrum das Privat- und Arbeitsleben von Paaren wie Anita Berber und Sebastian Droste, Vaslav Nijinsky und Bronislava Nijinska oder Clotilde von Derp und Alexander Sacharoff, die alle mehr oder weniger exotistische Tänze schufen und ihre avantgardistischen Entgrenzungen durch Fantasien des Anderen artikulierten.

Florentina Holzinger & Vincent Riebeek

Es sind selten erfahrbare Verbindungen zwischen Obszönität, Schönheit, Provokation, Zärtlichkeit, Ekel und Intimität, die die choreografischen Arbeiten des Künstler-Duos Vincent Riebeek und Florentina Holzinger auszeichnen. In ihnen verbinden sie ohne Angst vor kulturellen, sozialen und ästhetischen Grenzen Versatzstücke aus der Hoch- und der Popkultur.

Esoterische Bewegungspraktiken, Referenzen aus der Body Art treffen auf den Look von Musikclips und Zitaten der Tanzgeschichte von den Ballets Russes bis Merce Cunningham. Ihre Zusammenarbeit begannen die gebürtige Wienerin Holzinger und der Niederländer Riebeek bereits während ihres Studiums an der Amsterdamer School for New Dance Development.

„Kein Applaus für Scheiße“ (2011) nannten sie ihre Studienabschlussarbeit, die ihnen binnen kürzester Zeit den Ruf als gegenwärtig provokanteste Nachwuchschoreografen in Europa einbrachte. Mit „Spirit“ (2012) und „Wellness“ (2013) wuchs ihr Schaffen zu einer radikalen, beispiellosen Trilogie. Ihr „Schönheitsabend in drei Akten“ (2014) führt sie noch tiefer in die Tanzgeschichte und verortet die beiden Ausnahmekünstler in einer langen Genealogie von transgressiven Choreografenpaaren.

Eko Supriyanto
MEHR

ARCHIV-ARBEIT V

Eko Supriyanto

VOL

mit – Lua Leirner & Eko Supriyanto
Choreografie – Eko Supriyanto
Kostüm – Franziska Jacobsen
Dramaturgie – Anna Wagner, Eike Wittrock
Musik – Ryoji Ikeda: „zone 3“, „zone 4“, „zone 5“ (5 zones); „data.simplex“ (dataplex)

Premiere am 02. April 2014, Julius-Hans-Spiegel-Zentrum

Auf den Spuren von Julius Hans Spiegel

In seiner Arbeit für das Julius-Hans-Spiegel-Zentrum näherte sich Eko Supriyanto gemeinsam mit Lua Leirner dem künstlerischen Schaffen des Namensgebers des Freiburger TANZFONDS ERBE Projekts.

Julius Hans Spiegel faszinierte die Zuschauer mit seinem außergewöhnlichen Bewegungsvokabular und durch die Tatsache, dass er ohne Musik, nur begleitet von einem Gong und anderen Schlaginstrumenten tanzte. Als Vertreter der Tanzmoderne bemühte sich Spiegel um die Emanzipation der Bewegung von der Musik und um einen radikalen Bruch mit der dominanten Tradition des Balletts. Er suchte als Gehörloser zugleich nach anderen Wegen, Klang, Bewegung und Körper zu verbinden. Die javanischen Musik- und Bewegungskulturen, die sich durch eine sehr differenzierte Rhythmik auszeichnen, waren dabei für ihn ein idealer Anknüpfungspunkt.

Supriyanto hat während seiner Residenzzeit in Freiburg anhand der wenigen überlieferten Fotografien Tänze von Julius Hans Spiegel rekonstruiert und zwei Soli erarbeitet, die Lua Leirner und er selbst tanzen. Supriyanto und Leirner verbinden in ihrer Zusammenarbeit Elemente von klassischem javanischen Tanz, Pencat Silat und Gebärden miteinander. Mit dieser neuen Bewegungssprache befragen sie Spiegels Biografie und das Verhältnis von Fremdem und Eigenem, Verstehen und Nichtverstehen, Stille und Geräusch, Geste und Tanz, Zeichenhaftigkeit und Materialität.

Eko Supriyanto

Eko Supriyanto ist einer der bedeutendsten Choreografen Indonesiens. Seit seinem siebten Lebensajahr wurde er in klassischem javanischen Tanz und Pencat Silat, einer indonesischen Kampfkunst, ausgebildet. Anschließend studierte er Tanz und Choreografie an der University of California, Los Angeles, wohin er später mit einem Fulbright Stipendium für sein Dissertationsprojekt zurückkehrte. Eko Supriyanto wurde in Indonesien berühmt, nachdem er Madonna als Tänzer bei ihrer „Drowned World“-Tour begleitete. Er arbeitete mit Choreografen wie Lemi Ponifasio und Arco Renz und Regisseuren wie Peter Sellars, tritt als Schauspieler in Filmen auf und war choreografischer Berater für das Musical „Lion King“. Er ist Gründer und Künstlerischer Leiter des „Solo Dance Studios“ in Surakarta, Indonesien. Seine eigenen Arbeiten werden auf wichtigen Festivals in den USA, Europa und Asien gezeigt.

Aufführungstermine
MEHR
  • 18.01.2014 | Theater Freiburg Eröffnung mit Festvortrag von Prof. Dr. Inge Baxmann,
  • 24 .& 25.01.2014 | Theater Freiburg – Archiv-Arbeit I : Ein Tanzstück von Nacera Belaza
  • 21. & 23. 02.2014 | Theater Freiburg – Archiv-Arbeit II: Ein Tanzstück von Nelisiwe Xaba
  • 15. & 16.03.2014 | Theater Freiburg – Archiv-Arbeit III-IV: Ein Tanzstück Florentina Holzinger & Vincent Riebeek
  • 04. – 06.04.2014, Abschlussfestival: Präsentation der Archiv-Arbeiten I-IV und Vorträge von Irit Rogoff, Franz Anton Cramer u.a., Theater Freiburg

BILDERGALERIE

DAS KÖNNTE SIE AUCH
INTERESSIEREN:

Wind von West (Cantata)

Die Choreografie ist der erste Teil des dreiteiligen Stravinsky-Abends „Frühlingsopfer“. Er wurde mit Tänzern der Folkwang Hochschule und der New Yorker Julliard School rekonstruiert.MEHR

Video: „Ich war für Bonn viel zu krass.“

Choreograf Johann Kresnik im Gespräch über seine choreografischen Anfänge, die skandalträchtigen Bonner Jahre, Konsumfaschismus und seine eigenes Erbe.MEHR