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> ARTIKEL: BEWEGUNG ALS ERINNERUNG

Header Image Artikel: Bewegung als Erinnerung

Foto: Gregoire Romefort, aus „Débords. Reflections on the Green Table“ / Olga de Soto

Zuerst erschienen in: der architekt 3/13
Von Madeline Ritter und Franz Anton Cramer

Tanz hatte die längste Zeit eine ganz andere Funktion, als Kunst zu sein. Er war vielmehr eine gesellschaftliche Praxis, die in vielen Lebensbereichen strukturierende Bedeutung hatte, etwa zur Gemeinschaftsbildung, bei der Einubung von Geschlechterverhältnissen und in religiösen Feiern. Zwischen der Auffassung von Tanz als Grundbedurfnis des Menschen und dem modernen Phänomen von Tanz als individuelle künstlerische Ausdrucksform bewegt sich bis heute die Auseinandersetzung mit dessen Geschichte.

Die Kulturstiftung des Bundes hat in den letzten Jahren mehrfach Initiativen gestartet, um sowohl die Aufarbeitung der Vergangenheit wie auch die Archivierung und Zugänglichkeit historischer Materialien zum Tanz zu fördern. Aktuelle Beispiele sind der „Tanzfonds Erbe“ für künstlerische Werke zum Kulturerbe Tanz oder die Archivprojekte von William Forsythe („Motion Bank“) und Pina Bausch („Pinas Archiv“) sowie das Online‐Archiv „Digitaler Atlas Tanz“.

Bedenkt man, dass der Löwenanteil staatlicher Kulturförderung in die Bewahrung von materiellen Kulturgütern, Denkmälern und Bauten fließt, während die immaterielle Kunstform Tanz bisher keinerlei Beachtung fand, können diese Initiativen als Wendepunkt gelten. Gleichzeitig knüpfen sie an Forschungen an, die bereits in der Zwischenkriegszeit begonnen wurden.

In seinem erst 1933 publizierten Werk „Eine Weltgeschichte des Tanzes“ etwa versuchte der Gelehrte Curt Sachs – er musste kurz nach Erscheinen emigrieren – eine globale Typologie des Volkstanzes; den damaligen Avantgarden wie Ausdruckstanz oder Tanztheater widmete er nur wenige Seiten. Wichtig war Sachs und mit ihm einer ganzen Generation von Forschern vor allem die „Überlieferungskette“, also die Weitergabe von Tanzwissen von einer Generation zur nächsten, von einer Lebenswelt zur nächsten, von einem Körper zum anderen.

Wie wird die Tradition im Medium des Körperlichen fortgefuhrt? Zur Debatte stand der Widerspruch von Bewahren kanonisierter Formen und radikaler Neuschöpfung. Die künstlerische Gestaltungsfreiheit, wie sie in Europa einen immens hohen Rang hat, blieb ein konzeptionelles Problem: Tanz war in seiner spektakulären Erscheinung, etwa in Form des Balletts, festgelegt. Neuerungen entzuckten viele Zuschauer, verwirrten aber auch die definitorischen Ordnungen und damit das gewohnte ästhetische Verständnis.

Neben der ethnologischen Perspektive und deren dokumentarischem Vorgehen – so etwa die Filmexpeditionen von Rolf de Maré und Margaret Mead nach Indonesien in den 1930er und 1940er Jahren, von Jean Rouch im westlichen Afrika in den 1950er Jahren bis hin zu Leni Riefenstahls laszivem Nuba-Film – mit ihrem erklärten Anliegen, jahrhundertealte Formen zu bewahren, suchte daher bald auch die kunstlerische Seite nach Möglichkeiten, das einzelne Tanzkunstwerk mit seinen kinetischen Errungenschaften festzuhalten. Das Ergebnis waren Tanzschriften, choreographische Notationen, Erlebnistexte und vieles mehr, selbstverständlich auch Photographie und Video.

Trotz all dieser Bemühungen aber konnte die Bewegung selbst nicht überliefert werden. Daher mussten andere Wege gefunden werden, die Realität vor allem des künstlerischen Tanzes und seiner gesellschaftlichen Wirkungen weiterzugeben. Denn mag das eigentliche Tanzereignis – als Aufführung von Bewegung – nicht überlieferbar sein, der Kontext bleibt konkret. Er steht tänzerischer Erinnerungskultur zur Verfügung, auch wenn die Erscheinung selbst verloren ist. In ihm bewahrt sich das Erbe der Kunstform, um in immer neuen Gegenwarten greifbar zu werden. Hier setzen die Möglichkeiten – und auch die Instrumente – einer zeitgenössischen Kunstpraxis an, die anschaulich macht, dass in der Geschichte von Körpern und ihres Potentials für Repräsentation letztlich nichts verloren geht. Es ist der Auftrag zu einem konstruktiven Umgang mit dem Tanzerbe.

Wenn es derzeit auf breiter Front ein Interesse an historischen Tanzwerken gibt, stehen im wesentlichen zwei Medien zur Verfügung: Zeitzeugen und Bildlichkeit. Das wird besonders anschaulich an Oskar Schlemmers berühmtem, am Dessauer Bauhaus vollendeten Bühnenwerk „Das Triadische Ballett“, dessen Neufassung derzeit im Rahmen des Programms „Tanzfonds Erbe“ am Bayerischen Staatsballett vorbereitet wird.

Schlemmer hatte sich der systematischen Erforschung von Form in Raum und Zeit – also in der Bewegung – gewidmet, ohne sich auf die Abbildung menschlicher Gefühlswelten zu kaprizieren. Daher ist „Das Triadische Ballett“ vor allem auch ein Bildereignis. Kostüme, Skizzen, Photographien geben einen Eindruck des Bühnengeschehens. Der 1936 geborene Choreograph Gerhard Bohner erkannte in Schlemmers Recherchen eine Art Gegenentwurf zum Pathos des modernen Tanzes und rekonstruierte aus dem gut dokumentierten Bildmaterial ein bewegtes Bühnenstück, das zwischen 1977 und 1989 an die neunzig Mal in aller Welt aufgeführt wurde und sich damit in ein kollektives Gedächtnis einschrieb.

Das gegenteilige Modell entwirft seit 2004 die spanische Choreographin Olga de Soto: sie untersucht die individuelle Erinnerung von Zuschauern. In ausführlichen Interviews tastet sie die Wirkung des Tanzes auf den Einzelnen und den daraus abgeleiteten Erinnerungswert ab. Mit ihrer dokumentarischen Choreographie „Débords. Reflections on The Green Table“ über das legendäre pazifistische Tanztheater „Der Grüne Tisch“ (1932) von Kurt Jooss hat sie 2012 eine ganze Palette möglicher Erinnerungsräume vorgelegt, in denen Tanz vor allem als erzählte Erinnerung gegenwärtig wird – Interview-Mitschnitte auf Bildschirmen, die von Tänzern in Bewegung versetzt werden. Die Frage nach dem Überlieferungszusammenhang bewegter Kulturgüter stellt viele Disziplinen auf die Probe, auch und vielleicht in besonderem Maße die Geschichtsschreibung. Zugleich affirmiert aber keine andere kulturelle Praxis so sehr die Möglichkeiten eines kollektiven und zugleich körperlich gebundenen Erinnerns wie der Tanz.

Informationen

motionbank.org
www.pinabausch.org
www.digitaler-atlas-tanz.de

Franz Anton Cramer ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität der
Künste Berlin für die DFG‐Forschungsstelle „Verzeichnungen” und war zuvor unter
anderem Gastwissenschaftler am Nationalen Tanzzentrum Paris, Abteilung Archiv
und Dokumentation, sowie Projektbeauftragter für den Bereich Kulturerbe Tanz bei
Tanzplan Deutschland.

 

 



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