PROJEKTE

> DOKUMENTATION 2013

Projektdokumentation

Martin Stiefermann / MS Schrittmacher:
Anita Berber – Retro/­Perspektive

Anita Berber kennen die meisten heute nur noch aufgrund der mit ihr verknüpften Skandale, Rosa von Praunheims Film oder dem morbiden Portrait, das Otto Dix von ihr malte. Dabei war sie in den goldenen Zwanzigern ein über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannter Star. Wie keine andere hat sie den Zeitgeist herausgefordert und damit ihr Publikum auf die Probe gestellt. Gehasst und geliebt von der Öffentlichkeit setzte die Sacchetto-Schülerin ihre Themen mit technischer Perfektion immer radikaler um.

MS Schrittmacher begaben sich in ANITA BERBER – RETRO/PERSPEKTIVE auf die verlorene Spur der Tänzerin und Choreografin. Anita Berbers Werk jenseits der Skandale stand dabei im Vordergrund des umfangreichen Recherche- und Rekonstruktionsprojekts: MS Schrittmacher erforschten die Welt der Anita Berber aus tänzerisch/choreografischer Sicht, spürten ihrer künstlerischen Handschrift sowie ihrer Arbeitsweise nach und näherten sich so auch ihr als Person.

Neben der Sichtung biografischer Literatur sowie fachspezifischen und zeitgenössischen Schriftguts der 20er Jahre stützte sich die Recherche auf das Deutsche Tanzarchiv in Köln und Lothar Fischers Anita Berber Archiv in Berlin, in dem Martin Stiefermann den schmalen Band „Anita Berberová – Studie“ des tschechischen Choreografen und Autors Joe Jencík entdeckte. Dieser beschreibt einzigartig genau wie auch emotional Dramaturgie und Wirkung der Berberschen Choreografien. MS Schrittmacher veröffentlichten Jencíks Studie aus dem Jahr 1930 im Rahmen von ANITA BERBER – RETRO/PERSPEKTIVE erstmalig in deutscher Sprache. Auszüge sowie Bestellinformationen zu „Anita Berberová – Studie“ finden Sie weiter unten.

Auf Grundlage von Jencíks Studie rekonstruierte Martin Stiefermann gemeinsam mit der Tänzerin Brit Rodemund ausgewählte Soli von Anita Berber. Ziel war es, ihrem originären Werk und ihrer künstlerischen Radikalität aus einer zeitgenössischen Perspektive so nah wie möglich zu kommen. Die Ergebnisse ihrer Recherche- und Rekonstruktionsarbeit zeigten Stiefermann und Rodemund in einer Lecture Performance (siehe oben) im Kunstquartier Bethanien, Anita Berbers Sterbeort.

Basierend auf den Rekonstruktionsresultaten entwickelten MS Schrittmacher mit drei Tänzerinnen/Schauspielerinnen die Tanzperformance „Anita Berber – Sie trägt die Nacktheit im Gesicht“, die das Schaffen und die Arbeitsweise der Tänzerin und Choreografin Anita Berber in den Mittelpunkt stellte. Zitate von Zeitzeugen, Zeitungsartikel und Rezensionen berichten von dem pulsierenden, ruhelosen Dasein Anita Berbers, das keine Grenzen kannte und dessen Erlebnisse die Tänzerin unmittelbar in Bewegung und Tanz umsetzte.

Auch Anita Berbers umfangreiches Filmschaffen wurde in der Retro/Perspektive gewürdigt. Hierfür baten MS Schrittmacher den für seine innovativen Stummfilm Live-Sets bekannten DJ D'dread , den allerersten Episodenfim „Unheimliche Geschichten“, in dem Anita Berber sämtliche weibliche Hauptrollen spielte, zu vertonen.

Schließlich stellten MS Schrittmacher sich und anderen Kreativen im Rahmen einer Podiumsdiskussion die Frage nach den Erb:innen Anita Berbers: Wie sieht künstlerische Radikalität heute aus? Und wer sind ihre Protagonist:innen?

Hier finden sie eine Aufzeichnung des Stücks "Anita Berber – Sie trägt die Nacktheit im Gesicht"

Eine von MS Schrittmacher zusammengestellte Auswahl historischer Filmaufnahmen mit Antita Berber finden sie hier.

Interview mit Lothar Fischer
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Interview mit Lothar Fischer

Lothar Fischer ist ausgewiesener Anita Berber-Kenner und Biograf. Er hat Martin Stiefermann bei der Arbeit an seinem Anita Berber-Projekt beraten. Im Interview spricht er über die Bedeutung von Anita Berber, warum sie ihn fasziniert und über sein Anita-Berber-Archiv.

Lothar Fischer

wurde 1932 in Freital bei Dresden geboren. Ab 1949 freier Mitarbeiter an Zeitungen, 1951/52 Redakteur in Berlin (DDR). 1958–1963 Studium der Kunstpädagogik in Berlin und mit Abschluss Master of Arts in den USA. Bis 1994 Kunstlehrer in Berlin; danach freiberuflicher Schriftsteller und Journalist. Mitglied im Internationalen Kunstkritikerverband (aica). Lothar Fischer veröffentlichte Künstlerbiografien über Max Ernst, George Grosz, Heinrich Zille und Otto Dix. Seit Jahren gilt sein besonderes Interesse dem Leben Anita Berbers. Bisher erschienen „Tanz zwischen Rausch und Tod“ (1984, verfilmt von Rosa von Praunheim) und „Anita Berber – Göttin der Nacht“ (2006). Im Oktober 2014 wird sein Buch „Anita Berber – Tanz als Paradies und Hölle“ im hendrik Bäßler verlag veröffentlicht. Lothar Fischer lebt in Berlin

www.anita-berber.de

Lecture Performance
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Filmaufnahme der Lecture Performance mit Brit Rodemund, Martin Stiefermann und David Schwarz am Piano

Archivfunde
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Das Team der Tanz und Performance Gruppe MS Schrittmacher ist während der intensiven Recherche zu ihrer ANITA BERBER RETRO/PERSPEKTIVE, an verschiedensten Orten und in unterschiedlichen Archiven auf eine Reihe sehr interessanter und bisher unbekannter Materialien zu Anita Berber gestoßen.

TANZFONDS ERBE bedankt sich herzlich für die Genehmigung, diese Dokumente zum Teil veröffentlichen zu dürfen.

Das hier publizierte PDF enthält die folgenden Materialien:

  • „Anita Berber“ Songtext von Macellus Schiffer
  • Filmstills aus dem verschollenen Dokumentarfilm „Moderne Tänze“
  • Berber-Henry Foto
  • Auszug aus Helene Grimm-Reiter „Taubstumme lernen tanzen, Tanzschrift ersetzt das Gehör“
  • Kritikerstreit Konta/Tschuppik Wien 1922
  • Rah-Berber-Karikatur
  • Karikatur Kampftag gegen die Ratten
  • Interview Anita Berber „Sie will keine Nackttänzerin sein“ – Transkription
  •  Interview Anita Berber „Sie will keine Nackttänzerin sein“ – Original
  • Vorläufiges Verzeichnis der Tänze von Anita Berber
Anita Berber-Studie
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„Anita Berber – Studie“

Deutschsprachige Erstveröffentlichung von Joe Jencíks Tanzschrift

Der Band „Anita Berberová – Studie“ des tschechischen Choreografen, Tänzers und Autors Joe Jencík beschreibt in einzigartig genauer sowie emotionaler Weise Dramaturgie und Wirkung der Choreografien von Anita Berber. Joe Jencíks Beschreibungen verschiedener Tänze und der Arbeitsweise Anita Berbers bildeten die Basis für die ANITA BERBER – RETRO/PERSPEKTIVE von MS Schrittmacher. Im Rahmen des Projekts veröffentlichen MS Schrittmacher Jencíks Studie aus dem Jahr 1930 erstmalig in deutscher Sprache, zuzüglich vier aktueller Essays zu Anita Berber und der Arbeit von MS Schrittmacher im Rahmen dieses TANZFONDS ERBE Projekts. Komplettiert wird dieses einzigartige Buch durch bisher unveröffentlichte Fotos der Künstlerin und dem ersten Anita Berber Werkverzeichnis.

Erhältlich unter: tickets@msschrittmacher.de
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Auszüge:

Boudoir oder Atelier?
Wenn man von einer Tänzerin spricht, ist es notwendig, auch
bestimmte Privilegien zu berücksichtigen, die sie von jeher
geniesst. Obwohl ihr bürgerliches Leben absolut getrennt
ist vom künstlerischen und mit der derzeitigen oder späteren
künstlerischen Arbeit nichts gemein haben muss, können
wir irgendwann einen gewissen Einfluss beobachten: Mehr
noch, bei einigen ist das bürgerliche Leben direkt a priori
Beweggrund für den künstlerischen Ausdruck. Dass jedoch
das bürgerliche Leben einer Tänzerin die einzige Basis für das
tänzerische Schaffen war, ist, so denke ich, einzig und allein
bei Anita Berber hervorgetreten.

Der künstlerische Ausdruck dieser Frau – der Tanz – war
buchstäblich undenkbar ohne die direkte Einbeziehung ihres
Privatlebens, der bürgerlichen Handlungsweisen, Sitten und
Gebräuche. Die Berber war ein Individuum in den vielen Divisionen
der Terpsichore, deren Substanz des Bürgerlichen der
grundlegende und unverzichtbarste Bestandteil für ihr Schaffen
war. Diese Substanz benötigte sie unbedingt, um ihre
extremen Erlebnisse zu noch extremeren Erlebnissen umzuschmelzen,
die jedoch unerbittlich dem Kunstwerk unterlagen.

Demnach brauchte Anita Berber nie einen Tanzsaal,
damit ist gemeint, dass sie nicht die traditionelle Gepflogenheit
einhielt, am künstlerischen Tanz ausserhalb des täglichen
Lebens zu arbeiten, in einem Raum, fern von allem Banalen
und Trivialen, in dem der Künstler sein bürgerliches Gewand
ablegt und sich in das phantastische Kostüm seiner zweiten,
der künstlerischen Person kleidet. Das Tanzatelier war für sie
unbekannt. Sie brauchte es nicht, und somit verachtete sie
diesen obligaten Raum als kleinbürgerliches Hemd, das sie
nie tragen musste. Ihre Tänze kreierte sie direkt im Getümmel
der Tages- und Nachtereignisse. Von hier aus übertrug
sie diese mit nur einer kleinen Korrektur auf die freien Bretter
der Bühne …

 

Cocain
Vorhang. Auf dem Boden ein entblösster Körper in einem
leeren Raum, erfüllt von graublauer Morgendämmerung.
Alles tot. Oben, unten, rechts und links, wahrscheinlich auch
in der reglosen Gestalt selbst. Bis ins Detail so, wie sie damals
Hand in Hand mit der zufällig wiedergefundenen alten
Freundin ins Zimmer kam, in dem beide über den in Agonie
liegenden Körper Drostes steigen mussten, der, nachdem
er Kokain genommen hatte, im Delirium lag. Mit dieser Reminiszenz
an eine obszöne Szene, in der ihr zweiter Mann
den traurigen Helden abgab, beginnt Anita Berber eine ihrer
besten Schöpfungen – Cocain.

Also Tod und schwere Regungslosigkeit! Wahrscheinlich
der erste schwere Stoss des schlimmen Gifts, das den Körper
lähmt. Die Seele versucht irgendwo wieder ihre einstige
Herrschaft über den Körper zu erlangen. Kaum sichtbare
Zuckungen der einzelnen Körperpartien deuten dies an. Die
Konvulsionen bemächtigen sich der porzellanhaften Glieder,
und die berauschte Unglückselige kommt unbewusst
durch die Beharrlichkeit der Liebe zum Leben zu sich.

Zumindest in dem Masse, dass die Muskeln gehorchen müssen.
Mit einigen Schwüngen, die an die Poeschen Schwingungen
des langen Pendels erinnern, setzt sich der Körper auf.
Besser gesagt: Er bildet einen seltsamen Knoten Fleisch mit
zwei unbeschreiblichen Schlitzen statt Augen und mit einer
blutigen Wunde als Mund. Der Körper entwirrt sich unglaublich
träge, nach Anweisung eines Etwas, das in diesem
Moment zwischen dem Verstand und der angeschwollenen
Hirnrinde herrscht. Die Tänzerin stellt sich unpersönlich auf
die Füsse. Wahrscheinlich ist sie die Marionette eines grausamen
Waffenstillstands zwischen dem Gift und dem pumpenden
Herzen. Das Blut, von der Natur in die Adern getrieben,
hämmert von einer Stelle zur anderen durch den Körper. Das
Gift, getrieben vom Menschen, hemmt und stört verzweifelt:

Es mischt sich mit gemeiner Kraft in die Angelegenheit,
die dem grossen Geheimnis des Lebens vorbehalten ist. Der
Körper wirkt schrecklich lächerlich und peinlich megalomanisch.
Es brodelt in ihm, auch wenn er von Rauhreif bedeckt
ist. Die imaginären Fetzen eines Aufschreis um den Mund
herum zerfliessen in Verwunderung über plötzliche Visionen,
die vage sind: Diese zerrinnen wiederum vor dem Aufschrei,
und so verfolgt die Tänzerin sich selbst und die Auswüchse
ihrer kranken Vorstellungskraft. Der gesunde Körper kämpft
gegen den vergifteten Körper, und dieser wütet wiederum
im gesunden. Das pumpende Herz muss dann schliesslich
doch erschlaffen, und das Ungeheuer der Kokainpest würgt
sein freiwilliges Opfer. Der Körper der Tänzerin wirft sich
in einer riesigen Kaskade hin. Eine weitere Agonie – diesmal
erinnert sie an den süssen Schlaf einer aus der Hölle von
Spukbildern Befreiten.

Dies alles wird ausgeführt in einer Technik natürlicher
Schritte und ungesuchter Posen. Die Attitudes in diesem Tanz
sind tragisch angebrochen und die Arabesques dämonisch
verlängert. Die Drehungen des Körpers um die eigene Achse,
unerhört langsam wie in Zeitlupe. Die stossartigen
Sprünge – wie Peitschenhiebe – enden immer in einem plastischen, von
Bildhauern erträumten Port de bras. Die Gegenbewegungen
des Kopfes sind unerwartet, dem Gleichgewicht fast unerträglich.

Positionen der Beine: vor allem die grosse vierte Position,
in der sich ein einzigartiges Merkmal dieser originellen
Tänzerin erweist. Die gesamte Technik richtete sich nach der
Dynamik des Traums, abgehoben von der irdischen Planisphäre,
der die gesamte Kraft der Tänzerin in feinste Nuancen
von Leichtigkeit zwingt. Cocain und Morphium bilden
bei Anita Berber den wesentlichsten, ihr persönlich eigensten
künstlerischen Ausdruck, der stellenweise an die pathologische
Studie eines herausragenden Mimen grenzt. Ein Mime, der sich
jedoch rechtzeitig der Form des Tanzes, dem er sich
verschrieben hat, unterzuordnen verstand, ohne ihr treulos
zu werden. …

Programmheft mit Credits
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Hier finden Sie die Abendzettel zu den Veranstaltungen im Rahmen von "Anita Berber - Retro/Perspektive"

Aufführungstermine
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2014

  • 17. & 18.01.2014 | Kunstquartier Bethanien: Lecture Performance (Preview)
  • 18. – 29.06.2014 | Kunstquartier Bethanien: ANITA BERBER – RETRO/PERSPEKTIVE (Programm siehe unten)

2015

2019

2022

  • 23.10.2022 | Schweizer Haus, Seelow: Lecture Performance
  • 30.10.2022 | Kunstmuseum Stuttgart: Lecture Performance

 

PROGRAMM ANITA BEBER – RETRO/PERSPEKTIVE 18. – 29.06.2014

Anita Berber – Sie trägt die Nacktheit im Gesicht (Tanzperformance)
18.06.2014 – Uraufführung
20. & 21.06.2014
25. – 28.06.2014

Anita Berber – Rekonstruktionen (Lecture Performance)
19.06.2014
22.06.2014
29.06.2014

Unheimliche Geschichten (Filmvorführung mit Live DJ-Set)
22.06.2014

Anitas Erben – Diskussionsforum zur künstlerischen Radikalität heute, mit internationalen Performerinnen
29.06.2014

Anita Berber – Studie (Release der deutschsprachige Erstveröffentlichung von Joe Jencíks Tanzschrift)
19.06.2014 im Rahmen der Premiere der Lecture Performance

BILDERGALERIE

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