„Das Tanzkunstwerk hat seine Zeit, nicht anders als der Tänzer selber der Zeitspanne verhaftet ist, die es ihm gestattet, sich seines Körpers als Instrument souverän zu bedienen. Das ist das tänzerische Schicksal.“ Mary Wigman
Erinnerung als aktiver Versuch, die Welt neu zu sehen: „Abendliche Tänze“ ist sowohl der Name einer Choreografie der legendären Ausdruckstänzerin Mary Wigman von 1924, als auch der Titel eines Ballettstückes von Tom Schilling aus dem Jahr 1979. Während Wigmans Arbeit im Kontext der Weimarer Republik entstand, war Schilling Teil des politischen Systems der DDR und begründete das Tanztheater an der Komischen Oper Berlin. Zwar tanzte er als junger Mann selbst bei Wigman, wusste jedoch nichts von ihrer gleichnamigen Arbeit.
In Christoph Winklers Version der „Abendlichen Tänze“ ging es weder um die Erschaffung eines dritten, titelgleichen Tanzes, noch um ein Remake oder reine Rekonstruktion. Vielmehr setzte sich der Choreograf mit einer spezifischen Form der Erinnerung auseinander, die in der Praxis des Choreografierens selbst liegt.
Winklers Arbeit warf in Anbetracht seiner historischen Verkettungen viele Fragen bezüglich der Kunstform Tanz auf. Das Stück setzte sich selbstkritisch mit der eigenen Tradition beziehungsweise dem Historienverständnis des heutigen Tanzes auseinander und machte deutlich, dass die Bezüge und Entwicklungen nicht immer linear verlaufen. Darüber hinaus stellte Winkler autobiografische Bezüge her:
Aus einer Kleinstadt in der Nähe von Leipzig stammend, erinnerte er sich mithilfe von sieben Tänzer:innen und Schauspieler:innen auch an seine eigene Jugend, die DDR, den Kraftsport, sein Balletttraining, Konflikte, Techno, und auch immer wieder an die Begegnungen mit dem Werk von Mary Wigman und Tom Schilling. So entstand eine subjektive Erinnerungschoreografie, die die Geschichte des deutschen Tanzes jenseits von Rekonstruktion zu reflektieren suchte.
Die Vollversion der Aufführung können Sie sich unter folgendem Link ansehen: www.christoph-winkler.com
Mirko Winkel
Mirko Winkel wurde in der DDR geboren und lebt in Berlin und Wien. Er studierte Bildende Kunst und Performance Kunst bei Marina Abramovic und Christoph Schlingensief und absolvierte ein Masterstudium in Solo/Dance/Authorship an der Universität der Künste und der HfS Ernst Busch Berlin.
Seine recherchebasierten vornehmlich kollaborativen Arbeiten sind sowohl Performances, Videos, Vorträge und Texte, aber auch Raumkonzepte, Ideen und Verbesserungsvorschläge. Er ist Mitbegründer der Freien Klasse Braunschweig (Theaterformen 2004, Elektropopklub 2005) und der Agentur Mysafir (9. Istanbul Biennale) und war Teil eines einjährigen theatralen Experiments am Gesamtwerk von Heiner Müller (“Jenseits des Todes – HM3”, Wien 2006). Zusammen mit Doreen Uhlig entwickelte er die »Thesen zur Performance-Kunst« (Life Art Festival Peking), mit Alex Gerbaulet entwickelte er einen Film über jugendliche Neonazis in einem ostdeutschen Gefängnis, mit Anat Eisenberg realisierte er eine begehbare Installation in einem Istanbuler Luxus-Apartment, die wiederum für das Münchner Volkstheater „Radikal jung 2014“ neu adaptiert wurde. In Co-Regie mit Martin Schick hat er für das Konzert Theater Bern eine Casting-Show entwickelt, in der die größten Schweizer Probeleme gegeneinander antraten. Zurzeit entwickelt er einem Film über den Neubau des Brandenburger Parlaments in Gestalt des Potsdamer Stadtschlosses und konzipierte mit „Protein“ ein Magazin über das Altern. Seit drei Jahren unterrichtet er am Institut für Performative Künste und Bildung an der Kunsthochschule Braunschweig.
Seit 2008 arbeitet er in den Produktionen Christoph Winklers in unterschiedlichen Funktionen mit.
„Abendliche Tänze – Protocols of a disposing memory“
Das Stück „Abendlichen Tänze“ basiert auf Christoph Winklers Erinnerungen in Zusammenhang mit der Arbeit der deutschen Choreograf:innen Mary Wigman und Tom Schilling. Es beschreibt seine Situation als Tänzer und Choreograf in den Momenten, als er mit den beiden Künstler:innen in Kontakt kam. Am Anfang der Proben zu „Abendliche Tänze“ hat Winkler über mehrere Tage hinweg alles erzählt, was er daran erinnern konnte.
Die Tänzer:innen wurden dann von Mirko Winkel mit zeitlichem Abstand aufgefordert wiederzugeben, was sie davon im Gedächtnis behalten hatten. Diese ihre Erinnerungen bildeten dann die Grundlage für die Arbeit am Stück. Aus den Aufnahmen wurde eine 7-Kanal-Video-Installation, die vor und nach den Aufführungen gezeigt wurde. Die hier gezeigte Fassung ist ein Neuschnitt dieser Arbeit.
Konzept – Christoph Winkler
Von und mit – Chris Daftsios, Emma Daniel, Karima El Amrani, Karolina Kraczkowska, Pietro Pireddu, Claire Vivianne Sobottke, Ahmed Soura
Creative Consultant – Mirko Winkel
Musik – Tian Rotteveel
Kostüme – Lisa Kentner
Kostümassistenz – Marlene Modéer
Licht & Technik – André Schulz
Produktionsdramaturgie – ehrliche arbeit – freies Kulturbüro
Assistenz – Franziska Ruhnau
Musik – Franz Schubert Trio in Es-Dur, Notturno – Hansheinz Schneeberger, Jörg Ewald Dähler und Thomas Demenga
Musik, Vocal Arrangements, Klavier – Tian Rotteveel
(Ständchen & Tod und das Mädchen)
Weitere Musik – Holly Herndon
Eine Produktion von Christoph Winkler und ehrliche arbeit – freies Kulturbüro. In Zusammenarbeit mit SOPHIENSÆLE. Gefördert von TANZFONDS ERBE – Eine Initiative der Kulturstiftung des Bundes und durch den Regierenden Bürgermeister von Berlin – Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten. Mit freundlicher Unterstützung von Phase 7.