„Ein Gefühl von Gemeinschaft entsteht.“
Interview mit Stephan Brinkmann, Professor an der Folkwang Universität, zu Gedächtnisformen im Tanz und die Rolle der Musik.
Wie kamen Sie als Tänzer und Choreograf dazu, Ihre Kunst hinsichtlich ihrer Eigenschaft als Gedächtnisform wissenschaftlich zu untersuchen?
Ich habe während meines Engagements beim Tanztheater Wuppertal nebenbei studiert. Auf diese Weise kam ich ihn Berührung mit unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen. Dass sich mein Fokus irgendwann auf Tanz richten würde, war naheliegend, denn ich hatte viele Jahre als Tänzer und Choreograf gearbeitet und tat das auch weiterhin. Ich fand den Gedanken faszinierend, Gedächtnis nicht nur mit Vergangenheit, sondern vor allem mit Beweglichkeit zu assoziieren. Sich zu erinnern, bedeutet in Bewegung zu sein, und der Tanz ist dafür ein idealer Forschungsgegenstand. Von diesem philosophisch geprägten Gedanken aus hat sich die Auseinandersetzung mit Erkenntnissen anderer Disziplinen entwickelt, z.B. mit denen der Neurowissenschaft oder der Soziologie.
Sie betreiben eine qualitative Forschung aus Ihrer Erfahrung heraus. Hat diese Theoretisierung, die Annäherung aus einer sprachlich-analytischen Perspektive den Ihnen eigentlich sattsam bekannten Gegenstand verändert?
Den Gegenstand selbst nicht, aber die Art und Weise, wie ich ihn benenne und mit welchen Deutungsmustern ich ihn in Verbindung zu bringen vermag.
In Ihrer Publikation „Bewegung erinnern“ unterscheiden Sie zwei Gedächtnisformen des Tanzes: Das interne oder natürliche, also körperlich-geistige Gedächtnis, und das externe oder künstliche Gedächtnis in Form von Informationsträgern wie Notationen, Videos, Büchern etc. Welche Rolle spielen diese Gedächtnisformen für die Geschichte des Tanzes?
Sie ergänzen einander. Das natürliche Gedächtnis kann im Rückgriff auf künstliche Gedächtnismedien Geschichte erfahrbar machen und damit das Gestern ins Heute holen.
Was ist das Besondere am internen Gedächtnis des Tanzes, das an den jeweiligen Körper des Tänzers oder Choreografen gebunden ist und, wie Sie schreiben, primär durch persönliche Weitergabe vermittelt wird?
Das besondere am Tanz ist das Zeigen. Tänzer zeigen einander etwas. Auf diese Weise wird Gedächtnis vermittelt. Das Instrument dafür ist nur der Körper.
Wie kann dieses flüchtige, zeitgebundene Wissen des Tänzers wieder abrufbar und verfügbar gemacht werden?
Durch Zusammenkunft: im Tanztraining, kreativen Prozessen, Rekonstruktionen.
Durch persönliche Anwesenheit: mit dem Körper Wissen hineinholen, bewahren, abrufen und mitteilen. Es zirkulieren lassen.
Welche Rolle spielt die Erinnerungslücke? Kann sie auch produktiv oder gar konstitutiv sein für den Tanz?
Vergessen ist eine Bedingung von Gedächtnis. Sonst kann nichts Neues entstehen, nichts kann sich verändern. Das gilt auch für den Tanz, besonders, wenn es darum geht, ein neues Stück zu machen.
In welcher Beziehung stehen in Ihrer Theorie Wissen, Erinnerung und Gedächtnis? Wie würden Sie das spezifische Wissen des Tanzes charakterisieren?
Allgemein gesagt: Wissen ist etwas Objektives, Erinnerung etwas Subjektives. Das Gedächtnis organisiert beides in ein Verhältnis zueinander. Wissen im Tanz sperrt sich gegen eine vollständige Archivierung, da es nur begrenzt fixierbar ist. Deshalb sind lebendige Wissensträger so wichtig.
Wie prägt ein Choreograf die Tänzer seines Ensembles und ihre Körper durch Training und Techniken? Inwiefern hat sich Pina Bausch, bei der Sie lange getanzt haben, in Ihre Forschung eingeschrieben?
Durch die Tanztechnik, die der Arbeit zu Grunde liegt, die Wahl der Trainingsleiter, durch die Bewegungen, die ein Choreograf erfindet und an die Tänzer weitergibt, durch ein Repertoire, das gepflegt und getanzt wird. An Pina Bausch habe ich die Behutsamkeit im Benennen der Dinge geschätzt. Teil meiner wissenschaftlichen Auseinandersetzung ist immer auch das Suchen nach einer Sprache, die ihren Gegenstand nicht verletzt.
Hat sich die wissenschaftliche Arbeit auf Ihren Körper und Ihr Körpergedächtnis ausgewirkt?
Sie hat mich dazu gebracht, lange Zeit still zu sitzen, nachzudenken, zu lesen, Bibliotheken aufzusuchen, anderen Wissenschaftlern zu begegnen. Im Ausgleich dazu ist das Tanzen dann auch wieder intensiver.
Wie ist Ihr Selbstverständnis – sehen Sie sich als Gedächtnisforscher, Wissenschaftler oder Künstler?
Als Mensch, der tanzt. Innerhalb der Kunstform, die mich am meisten bewegt, eigne ich mir neues Wissen an, gebe mein vorhandenes Wissen weiter, z.B. an Tanzstudierende und während eines künstlerischen Prozesses versuche ich zu vergessen, was ich weiß.
Welche Rolle spielt die Musik im Erinnern und in der Aktualisierung einer Choreografie? Ist sie eine Erinnerungs-Struktur?
Sie ist Erinnerungs- und Zeitstruktur, die dazu beiträgt, der subjektiven Dauer einer Bewegung eine Rahmung zu geben, und die Erinnerungsprozesse in Gang setzen kann. Die Musik koppelt das subjektive Bewegungsbewusstsein ans Außen, an ein für alle Hörbares, über das sich dann auch kommunizieren lässt.
Ist die Musik eingeschrieben in das kollektive Gedächtnis des Tanzes?
Musik und Tanz sind einander verwandt, weil sie beide die Eigenschaft besitzen, uns in sie hineinzuziehen. Die Erinnerung an eine Choreografie wird in vielen Fällen auch die Erinnerung an eine damit verbundene Musik einschließen.
Welche Bedeutung kommt den Korrepetitoren – und damit auch der Musik – in der Tanzausbildung, im Training und im künstlerischen Arbeitsprozess zu? Findet eine Übertragung zwischen den Künsten, zwischen den Künstlern statt, inspirieren und/oder unterstützen sich Musik und Tanz gegenseitig?
Sie sorgen für eine Ebene der Kommunikation. Was sie spielen, können alle hören und alle richten sich danach. Ein Gefühl von Gemeinschaft entsteht. Korrepetitoren beeinflussen die Bewegungsausführung auch in ihrer Qualität, je nachdem, was für Musik sie als musikalische Begleitung spielen.
Die Aneignung von Musik wie von Tanz ist wesentlich durch Wiederholung geprägt, sei es nun im Üben, im Training oder in den Proben. Unterstützt die Musik das Memorieren bzw. erneute Abrufen von Bewegung?
Musik kann als Erinnerungsstütze dienen. Andererseits wirkt Musik motorischen Automatismen entgegen, denn Tänzer sind dazu aufgefordert, gegenwartsbezogen mit der Musik zu agieren.
In Paula Rosolens Stück „Piano Men“ treten Korrepetitoren als teilnehmende Zeugen des deutschen Tanzes auf, die ihre Kunst in den Dienst von Choreografen und Tänzern stellen, aber auch aktiv am choreografischen Entstehungsprozess beteiligt sind. Welche Form von Gedächtnis stellen die Korrepetitoren dar?
Sie stehen für das sogenannte kommunikative Gedächtnis, das vor allem verbal vermittelt wird und ein Aspekt des Gedächtnisses eines Kollektivs ist, welches immer von lebenden Trägern vermittelt wird und nur für eine bestimmte Zeitspanne existiert.
Was zeichnet ihr gespeichertes, internes Wissen aus, beispielsweise im Vergleich zum Körperwissen eines Tänzers?
Die Besonderheit ihres motorischen Wissens liegt bei Ihnen in erster Linie in den Händen, einem Teil des Körpers, das den Menschen in Vergleich zu anderen Lebewesen besonders prädestiniert. Die Neurowissenschaft zeigt, dass z.B. Klavier spielen durch unsere motorische Intelligenz möglich wird, also durch einen direkten Zugriff des Gehirns auf motorische Bahnen. Die besondere motorische Intelligenz des Menschen gilt auch für den Tanz.
Wie arbeiten Sie selbst im Unterricht oder auch im künstlerischen Arbeitsprozess mit Korrepetitoren?
Ich zeige den Studierenden eine Bewegungsabfolge erst ohne Musik und zähle dazu. Der Korrepetitor kann dann schon Tempo und Dynamik der Übung erkennen. Bevor die Studierenden die gezeigte Übung wiederholen, gebe ich das dazugehörige Zeitmaß nochmal vor und der Korrepetitor übernimmt. In der Umsetzung sind die Korrepetitoren dann frei zu spielen, was sie für die Bewegung angemessen finden. Ich greife da aus Respekt ungern ein. Künstlerische Arbeitsprozesse mit Korrepetitoren am Klavier habe ich bisher nicht erlebt.
Hat sich die Funktion des Korrepetitors in den letzten zwanzig Jahren verändert?
Besonders der Zeitgenössische Tanz hat sich in den letzten zwanzig Jahren ausdifferenziert. Es bedarf heute Korrepetitoren, die sowohl für Zeitgenössischen als auch für Klassischen Tanz begleiten und den Unterschied zwischen den Tanzformen klanglich unterstützen können. Die Fähigkeit zu improvisieren, ist für einen Korrepetitor besonders wichtig, denn er muss spontan auf das reagieren, was der Trainingsleiter zeigt.
Ist es vorstellbar, dass ein anderes Instrument als das Klavier dieser Aufgaben übernimmt?
Perkussionsinstrumente werden von vielen Korrepetitoren in Ergänzung zum Klavier benutzt. Im spanischen Tanz begleitet die Gitarre. Natürlich kann Tanz von anderen Instrumenten begleitet werden, aber das Klavier hat eine ungeheure dynamische und klangliche Bandbreite. Das ist für Tanz ideal.
Musik und Tanz sind zeitbasierte Künste, Bewegungen ebenso uneinholbar wie Töne. Liegt darin ein besonderes Potenzial für den Begriff des Gedächtnisses?
Dass die Künste ein Akt des Gedächtnisses sind, ist eine Annahme, die in der Tanzforschung bislang wenig diskutiert wurde. Besonders der Tanz wird oft unter seinem Aspekt der Flüchtigkeit gesehen, das Gedächtnis unter seinem Aspekt der Vergangenheit. Dabei ist das Gedächtnis etwas sehr Gegenwärtiges und der Tanz etwas sehr Dauerhaftes.
Prof. Dr. phil. Stephan Brinkmann
ist Professor für Zeitgenössischen Tanz an der Folkwang Universität der Künste. Seine Tanzausbildung erhielt er an der Folkwang Universität Essen.. Er studierte Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft, Soziologie und Germanistik an der Universität zu Köln und absolvierte ein Zusatzstudium der Tanzpädagogik an der Folkwang Universität. An der Universität Hamburg wurde er mit einer Dissertation über Gedächtnisformen im Tanz promoviert. Stephan Brinkmann war zwei Jahre lang Tänzer und Choreograf beim Folkwang Tanzstudio bevor er 1995 festes Ensemblemitglied des Tanztheaters Wuppertal Pina Bausch wurde und dort bis 2010 tanzte. Als Trainings- und Probenleiter war er u.a. 2007 am Staatstheater Kassel engagiert, studierte 2012 „Nur Du“ beim Tanztheater Wuppertal neu ein oder rekonstruierte 2013 zusammen mit Barbara Kaufmann das Tannhäuser-Bacchanal von Pina Bausch. Seine Lehrtätigkeit für Zeitgenössischen Tanz führte ihn an zahlreiche nationale und internationale Einrichtungen. Er unterrichtete Tanz für Schülerinnen und Schüler unterschiedlichster Schulformen und arbeitete intensiv mit dem Theaterprojekt für junge Menschen „Theater Total“ in Bochum zusammen.