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> ESSAY: PLAGIAT IM TANZ


Von Klaus Kieser

Wer eine Kunstschule besucht, lernt es von der Pike auf: das Kopieren berühmter Vorbilder und Stile. Gleich danach wird das absichtsvolle Kopieren zum Problem. Wer ohne ironisches Augenzwinkern oder offensichtlich konzeptuellen Zugriff fremde Ideen übernimmt, bekommt es mit dem Strafgesetzbuch zu tun. Einmal im Fall der sogenannten Raubkopien, also des ungenehmigten Imitierens edler, in der Regel prestigeträchtiger Markenartikel, oder des illegalen Vervielfältigens von Speichermedien (wie CD oder DVD) oder des täuschend echt gemachten Nachmalens berühmter Gemälde. Dass ein Plagiat alles andere ist als ein Kavaliersdelikt, hat der ehemalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg erfahren, nachdem bekannt geworden war, dass er in seiner Dissertation aus Texten anderer Autoren zitiert hat, ohne dies in jedem Einzelfall kenntlich zu machen, und er somit den Eindruck erweckte, er wäre der Verfasser. Das kostete ihn das Amt, seitdem beschäftigt sich auch die Staatsanwaltschaft mit dem Fall. Nicht nur in der Wissenschaft, auch in der Literatur lässt sich ein Abschreiben von anderen prinzipiell leicht aufdecken. So geschehen etwa bei Helene Hegemann mit ihrem Roman «Axolotl Roadkill». Immer geht es darum: Entweder sind Textpassagen identisch, oder sie sind es nicht. Das kann man relativ leicht ausmachen, der Graubereich ist klein.

Anders in der Musik und im Tanz. In beiden Kunstgattungen ist das Material vergleichsweise beschränkt, sodass Ähnlichkeiten in der Erfindung einer Melodie, einer Harmoniefolge oder einer Tanzkombination zu einem gewissen Grad einfach passieren können, ungeachtet der Tatsache, dass jeder Komponist, jeder Choreograf so originell wie möglich sein möchte. Gleichwohl gibt es das Plagiat auch hier.

Beim Plagiat handelt es sich um «geistigen Diebstahl». Doch kennt das Gesetz diesen Begriff nicht. Das Standard-Nachschlagewerk der juristischen Zunft, «Creifelds Rechtswörterbuch», definiert ihn so: «Plagiat bedeutet, dass ein fremdes Werk ganz oder teilweise in ein neues Werk übernommen wird, dessen Urheber sich als Urheber des gesamten neuen Werkes bezeichnet. Es handelt sich um eine unerlaubte Benutzung eines unfreien Werkes.»
Der letzte Satz verweist auf das Urheberrecht, dessen Leitgedanke es ist, ein Werk der Kunst oder der Wissenschaft vor unerlaubter (wirtschaftlicher) Verwertung zu schützen. Bei uns bis zu 70 Jahre nach dem Tod seines Schöpfers. Die Vorstellung, dass hinter einem Kunstwerk eine schützenswerte geistige Leistung steht, setzte sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch und manifestierte sich auf nationaler Ebene im «Gesetz, betreffend das Urheberrecht an Schriftwerken, Abbildungen, musikalischen Kompositionen und dramatischen Werken» vom 11. Juni 1870; länderübergreifend regelte das Urheberrecht erstmals die 1886 in Bern unterzeichnete «Übereinkunft, betreffend die Bildung eines internationalen Verbandes zum Schutze von Werken der Literatur und Kunst». In Deutschland gilt seit dem 1. Januar 1966 das «Gesetz über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte». Es zählen zu den schutzfähigen auch «pantomimische Werke einschließlich Werke der Tanzkunst», wie es unglücklich formuliert in § 2 Abs. 1 Nr. 3 heißt. Somit gelten sämtliche im Gesetz definierten Rechte genauso für einen Choreografen.

So weit die Theorie. In der Praxis hingegen könnte man meinen, dass der Tanz ein Feld der Heiligen sei, in dem weder geklaut noch kopiert wird. Denn anders als etwa in der U-Musik gibt es im Tanz praktisch keine Gerichtsverfahren wegen Plagiats. Obwohl im Tanz plagiiert wird. Passionierte Tanzgucker können ein Lied davon singen; wie oft haben sie für sich gedacht: «Das sieht ja aus wie …»? Und Choreografen lästern hinter vorgehaltener Hand gern einmal über einen Kollegen, er habe bei einem selbst oder bei Herrn Soundso geklaut. Doch juristische Schritte leiten Choreografen so gut wie nie ein. Warum nicht?
Vielleicht gehört es zum Selbstverständnis dieser Kunst, dass man großzügig mit Kopieren und Imitieren umgeht. Das stünde sogar im Einklang mit der Tradition, denn seitdem Ballette, die an einem Ort erfolgreich waren, an einem anderen Theater einstudiert wurden, seitdem Choreografen wie Handlungsvertreter umherreisten – seit Mitte des 18. Jahrhunderts –, hat man nach Gutdünken abgekupfert, imitiert, auch parodiert. Rechtlich war das unproblematisch; es gab noch kein Urheberrecht, also war es auch künstlerisch in Ordnung. Dazu kommt, dass die Idee, eine Choreografie als ein eigenständiges Kunstwerk zu betrachten, sich erst im 20. Jahrhundert durchsetzte. Hundert Jahre vorher galt als Schöpfer eines Balletts der Librettist, irgendwann stattete man den Komponisten der Musik mit diesem Attribut aus, und erst seit zwei, drei Jahrzehnten ist es weithin akzeptiert, dass der Choreograf als eigentlicher Urheber anzusehen ist – auch wenn das so manches Provinztheater oder so mancher Musikwissenschaftler bis heute nicht nachvollziehen mag.
Hat sich das Stillhalten, wenn es ums Nachahmen geht, im kollektiven Unbewussten der Choreografenzunft verankert? Dabei ist es gar nicht so schwer, als Choreograf im Fall eines Plagiats sein Recht durchzusetzen. Denn nach deutschem Urheberrecht gilt: Ein Tanzwerk benötigt keine Fixierung in Schriftform oder auf Bild-oder Tonträger, damit es schutzfähig wird. Allein die Tatsache, dass eine Choreografie existiert – und sei es nur bei Proben oder als Improvisation –, macht sie, unabhängig von der künstlerischen Qualität, zu einem Kunstwerk und damit potenziell schutzfähig. Wobei es sich von selbst versteht, dass im Fall eines Rechtsstreits ein aussagekräftiges Dokument – das kann eine Notation oder ein Film sein – für die Beweisführung von Vorteil ist.

Wie man sich gegen ein Plagiat erfolgreich wehren kann, demonstrierte Kurt Jooss: Nachdem am 6. September 1951 der Revuefilm «Sensation in San Remo» mit Marika Rökk in der Hauptrolle in die Kinos gekommen war, legte der Choreograf eine einstweilige Verfügung gegen die Vorführung des Films in der originalen Fassung im Essener Kino «Lichtburg» ein und forderte, die Szene mit dem Titel «Die Sittlichkeitskommission» müsse aus dem Film herausgenommen werden. Weil nämlich die Bewegungen in Schwarz gekleideter und Masken alter Männer tragender Personen an einem Tisch eine überraschende Ähnlichkeit mit dem ersten und letzten Bild seines Balletts «Der grüne Tisch» aufwiesen. Das Landgericht Essen entschied in diesem Fall sehr schnell; wie der «Spiegel» vom 26. September 1951 berichtete, verpflichtete es die Produktionsfirma, die entsprechende Szene aus dem Film herauszuschneiden. Ungeachtet eidesstattlicher Erklärungen von Marika Rökk, Regisseur Georg Jacoby und Produzent Rolf Meyer, den «Grünen Tisch» überhaupt nicht zu kennen, urteilte das Gericht, es spreche «die große Wahrscheinlichkeit dafür, daß die Tischszene dem Tanzdrama von Kurt Jooss zum Teil entlehnt ist».
Aufschlussreich war die Verhandlung: Das Gericht ließ sich den «Grünen Tisch» vom Folkwang-Ballett vortanzen und schaute sich die fragliche Szene des Films an. Ihm genügte der bloße Augenschein für die Urteilsfindung. Und es ließ sich nicht darauf ein nachzuweisen, ob Regisseur oder Hauptdarstellerin oder die für die Tanznummern im Film verantwortliche Choreografin Sabine Ress tatsächlich je den «Grünen Tisch» gesehen hatte (was nahezu unmöglich gewesen wäre). Allerdings berücksichtigte das Gericht Indizien, die dafür sprachen, dass Marika Rökk und Sabine Ress den «Grünen Tisch» zum Zeitpunkt der Filmaufnahmen mindestens indirekt gekannt hatten (wie: Sabine Ress trat 1932 beim selben Choreografiewettbewerb in Paris an, den Jooss mit dem «Grünen Tisch» gewann; Marika Rökk tourte 1950 längere Zeit mit Werner Stammer, der Mitglied in Jooss’ Kompanie gewesen war und im «Grünen Tisch» getanzt hatte).
Jooss kannte also keine Zurückhaltung, gegen ein Plagiat vorzugehen. Lag es daran, dass es bei diesem Plagiat um ein anderes, finanzstärkeres Medium ging und somit ein Schadenersatz im Bereich des Möglichen war? Wenn ein hübscher Batzen Geld lockt, werden auch Choreografen schwach und pfeifen auf die Solidarität. Wie Juri Grigorowitsch 1999 vor Augen führte. Unmittelbar vor dem Londoner Gastspiel des Bolschoi-Balletts trat er mit einer Tantiemenforderung von rund 100.000 Pfund an die Öffentlichkeit; er argumentierte, drei der vorgesehenen Ballette – «Spartakus», «La bayadère» und «Raymonda» – seien von ihm erstellte Produktionen, für deren Aufführung er kein Einverständnis gegeben habe. Da die Londoner Vorstellungen wie geplant stattfanden, darf angenommen werden, dass es eine rasche und für beide Seiten zufriedenstellende Einigung zwischen dem Bolschoi-Ballett und seinem früheren Direktor und Chefchoreografen gegeben hat.

Naheliegend, dass Tanzplagiate nur dort gedeihen können, wo in der Tradition des Balletts und des Modern Dance choreografiert wird. Hier ist ein Choreograf naturgemäß bestrebt, neue, stets besondere Bewegungskombinationen und -formen zu finden. Bei entsprechender Originalität und Eigentümlichkeit überwinden seine Werke die Hürde, die in der juristischen Sprache als «Schöpfungshöhe» bezeichnet wird: wenn eine choreografische Idee derart besonders ist, dass sie über das hinausgeht, was etwa im Training oder zu sonstigen Übungszwecken praktiziert wird. Anders ausgedrückt: Die einzelnen Posen oder Schritte des Balletts, wie Arabesque, Pas de bourrée, Pas de chat, Entrechat etc., sind nicht schutzfähig, doch in der Kombination sehr wohl, sofern diese charakteristisch genug ist. Wie lang eine schutzfähige choreografische Einheit sein muss, ist nicht festgelegt. Es kommt auch nicht so sehr auf die Länge an, sondern auf die spezifische, unverwechselbare Kreation. In dieser Hinsicht gleicht der Tanz der Musik, in der beispielsweise eine Tonleiter nicht geschützt werden kann, wohl aber eine originäre musikalische Erfindung wie eine Melodie.
Im Tanz kann weder ein Thema noch eine Geschichte, noch ein bestimmtes Format geschützt werden. Die schutzfähige choreografische Erfindung muss in Zusammenhang mit Bewegung stehen, und das deckt ein weites Feld ab: von einer Kombination bis zum strukturellen Verlauf eines ganzen Stücks. Ebenso wenig schutzfähig ist ein Stil; zu choreografieren «nach Art von …» mag nicht unbedingt zu großer Anerkennung verhelfen, verstößt jedoch zunächst einmal nicht gegen das Urheberrecht.

Vermutlich wissen Choreografen zu wenig über den rechtlichen Rahmen ihres Tuns, und deshalb interessieren sie sich auch nicht für das Thema Plagiat. Einer der großen Choreografen unserer Zeit, Jirí Kylián, gibt zu, dass ihn «dieses Problem nie wirklich interessiert hat» und für ihn «die Beschäftigung mit solchen Dingen eigentlich nur Zeit- und Energieverschwendung ist». Da darf man annehmen, dass William Forsythe, John Neumeier etc. genauso denken. Und der Erbe John Crankos, Dieter Gräfe. Er hätte in mindestens einem Fall einen veritablen Grund gehabt, wegen eines Plagiats vorzugehen: und zwar gegen Günter Pick, in dessen Ballett «Werther-Szenen» 1989 etwas ziemlich Bekanntes zu sehen war. Gräfe hätte es einer Kritik in der «Süddeutschen Zeitung» entnehmen können; damals schrieb Manuel Brug: «[…] die besten Passagen der zentralen Begegnung zwischen Werther und Lotte sind – und das ist peinlich – aus John Crankos genialem ‹Onegin›-Schluß-Pas-de-deux geklaut.»

Legt man keine Klage ein, weil sie wohl meist gegen einen Choreografen gerichtet wäre, der in der eigenen Wahrnehmung nicht dasselbe künstlerische Format aufweist? Dem man durch eine unvermeidliche mediale Berichterstattung nicht zu unverdienter Aufmerksamkeit verhelfen möchte? Oder hält man sich zurück, weil man nicht als kleinlicher Neider dastehen will? Hat man eine Beißhemmung, weil jeder jeden kennt?
Ein Urheberrechtsverstoß lässt sich, wie Jooss 1951 vorgeführt hat, schnell verbieten, doch was bringt es dem Klagenden außer die Bestätigung, im Recht zu sein? Eine finanzielle Entschädigung dürfte, wenn es sie überhaupt gibt, nur mit erheblichem Aufwand durchsetzbar sein. Warum also sollte sich ein Choreograf mit einem anderen streiten, den er im Grunde wohl kaum für satisfaktionsfähig hält? Kylián gab darauf eine überzeugende Antwort: «Wenn jemand etwas aus meinem Schaffen entwendet hat, tröste ich mich mit der alten Weisheit: ‹Man klaut nur vom Besten›.»

Quelle: tanz / Mai 2011



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