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> ESSAY: BODIES OF WORK AND THEIR CONTEXTS IN ACTIVE ARCHIVES

Generelle Überlegungen zur politischen Dimension des Tanzerbes

Werkkörper und ihre Kontexte im aktiven Archiv

von Helmut Ploebst

„Le Sacre du printemps“ ist ein Glücksfall der Tanzgeschichte. Uraufgeführt am 29. Mai 1913 im Pariser Théâtre des Champs-Élysées, „after a hundred rehearsals“, wie Igor Strawinsky laut New York Times vom 8. Juni 1913 sagte, „and one year’s hard work“, wurde das Stück zur Ikone auf mehreren Ebenen der Historiografie: der Musik-, Tanz- und Kulturgeschichte. Die unmittelbare und mittelbare Wirkung des Balletts ist bekannt und unter dem Aspekt der kontroversen Rezeption der Ballets Russes zu sehen, die bereits bei „L’Après-midi d’un faune“, auf den Tag exakt ein Jahr davor, ebenfalls in Paris, einen Höhepunkt erreicht hatte.

Anders als im Fall „L’Après-midi“ ist von „Le Sacre“ keine Notation überliefert. Millicent Hodsons Rekonstruktionsversuch von 1987 war ein gewagtes Unternehmen, dessen Verdienst unter anderem in seinem Beitrag zu der bis heute unabgeschlossenen Debatte um die Bewertung des Nachbauens eines Tanzstücks liegt.

Der tatsächliche Ablauf und der von den TänzerInnen geprägte Charakter der Uraufführung von Nijinskys Choreografie bleibt aber – im Gegensatz zu Strawinskys Musik – unwiederbringlich verloren. Verloren sind auch der Kontext, der zu dem Werk geführt hat, die Vorgänge während der Arbeit an dem Stück und der zitierten hundert Proben, die nach heutigem Verständnis allesamt zu dem Werk gehören sowie die folgenden neun Aufführungen in Paris und London.

Dimensionen des Werkkörpers

Die Formulierung „nach heutigem Verständnis“ ist riskant, weil damit kein genereller Konsens gemeint sein kann, sondern – wie in diesem Text – die Zuspitzung eines Diskurses, der sich um die Positionierung der erstpublizierten Fassung eines Werks der darstellenden Kunst im Sinn eines umfassenderen Originalbegriffs gebildet hat. Innerhalb dieses Diskurses reiben sich auch die Produktions- und die Rezeptionsperspektive aneinander und damit an der Frage, ob die beiden überhaupt voneinander zu trennen sind.

Aus der Perspektive der Produktion einer choreografischen Live-Arbeit kann hier die Uraufführung ohne weiteres als das Herzstück des gesamten Werkkörpers einer Choreografie gelten. Doch der Umfang dieses Werkkörpers reicht von der ersten Idee bis zur letzten Aufführung. Daher war „Le Sacre“ hinsichtlich seines mit Nijinsky verbundenen Tanzanteils nach der letzten Londoner Vorstellung abgeschlossen, hinsichtlich Strawinskys Musikanteil ist er das bis heute noch nicht.

Während der – wiederholten – Veröffentlichung eines Stücks werden auch die jeweils unterschiedlichen Auditorien zu Teilen des Werkkörpers. Im Austausch zwischen Performance und Publikum bildet sich eine Schnittmenge aus Produktion und Rezeption. Denn aus der Rezeptionsperspektive betrachtet, geht eine Performance in der unmittelbaren Wahrnehmung jedes einzelnen Rezipienten auf. Das bedeutet, dass sich das Aufführungsereignis von der Bühne in das Publikum projiziert und als in jedem Zuschauer subjektiv anders umgesetztes Wahrnehmungserlebnis auf eine weitere Realitätsebene übersetzt. Damit vervielfacht sich aber auch die Existenz des Ereignisses gemäß der Anzahl der anwesenden „Zeugen“.

Zu jener der Produktion und Rezeption gesellt sich in der Folge eine dritte Perspektive: die der Medialisierung. Das ist der Gesamtkomplex der mittelbaren Rezeption einer künstlerischen Arbeit, wobei das Gewicht hier auf den Prozessen der Vermittlung – vor allem von Schrift-, Bild- und Laufbild-Dokumenten sowie deren Rezeption und Reflexion – liegt.

Ereignis der sozialen Kommunikation

Kein Kunstwerk kann von den Zusammenhängen, durch die und in denen es entstanden ist, und jenen, die es (mit)verursacht, getrennt werden. Erst die Kontexte von Produktion, Publikation, Rezeption und Medialisierung bewirken die Integration – auch – einer choreografischen Arbeit in das System gesellschaftlicher Kommunikation und weiter in das kulturelle Gedächtnis der Gesellschaft.

Wenn sich also herausstellt, dass ein Stück bereits durch seine unmittelbare Rezeption auf eine weitere Realitätsebene übergeht und sich in der Folge über die Prozesse seiner Medialisierung in eine dritte Realität projiziert, wird wie bei „Le Sacre“ nachvollziehbar, dass dieses Werk auch dort im Fluss ist, wo es als Ereignis gar nicht stattgefunden hat, und auch dann noch, wenn seine primäre Publikation längst beendet wurde.

So sprengt ein Kunstwerk die Grenzen des Raums seiner Emergenz: seines Auftauchens im ästhetischen System, das als ein von Kriterien der Kunst geprägtes Diskursgebilde aufgefasst wird. Durch die Wahrnehmung (aisthêsis) seiner Kodes und Intensitäten durch seine Rezipienten sowie durch seine Medialisierung wird das performative Werk zu einem Ereignis der sozialen Kommunikation. Als Resultat der Verarbeitung von Wahrnehmungsprozessen seiner AutorInnen – der Gesamtheit der an seinem Entstehen beteiligten Personen – ist es das allerdings bereits von Beginn an gewesen.

Autopoietisches Testgelände

Als Ereignis der sozialen Kommunikation gewinnt also ein Tanzstück, wie die Kunstwerke aller anderen Genres auch, eine sehr konkrete Position im Gesellschaftsdiskurs. Die Folgen dieser Positionierung als Ereignis der sozialen Kommunikation für das generelle Verständnis von Kunst sind evident. Denn der weithin als enigmatisch und elitär geltende Emergenzraum ungebundener künstlerischer Formulierungen – allgemein unter anderem in Tanz, Theater, Film, bildender Kunst oder Musik – stellt unter diesem Aspekt nicht mehr eine Nische, sondern im Gegenteil eines der bedeutendsten Gebiete der gesellschaftlichen Kommunikation überhaupt dar.

Denn nur in diesem Emergenzraum experimentiert das gesamte System sozialer Kommunikation jenseits zweckgerichteter Einschränkungen absichtslos und, wie Niklas Luhmann sagen würde, autopoietisch, mit sich selbst. Hier entstehen Entflechtungen, Unordnungen und Reformulierungen auf allen Ebenen des Kommunizierens. Nur hier wird das ansonsten Unaussprechliche gesagt, das Verdeckte entborgen, werden Vorschriften entschrieben, Gesetze entsetzt oder Normen desavouiert. Und nur hier herrscht eine Eigendynamik der Zeichen und Intensitäten in permanenten Volten und Re-Volten der Sinnproduktion (daher greifen etwa auch die Wissenschaften, wenn sie in der Formulierung grundlegend neuer Erkenntnisse neue kommunikative Instrumentarien benötigen, immer wieder gerade auf diesen Emergenzraum zu).

Ein Großteil der Kritik an der Selbstreferentialität von Kunst, die ohnehin nie ausschließlich eine solche sein kann, geht schlicht an dieser Realität vorbei. Ein kleinerer Teil resultiert dann aus Beobachtungen der Grenzen, die dieses Experimentierfeld der Kommunikation erfahren kann. Denn dessen Freiheit misst sich daran, inwieweit es sich selbst innerhalb einer Gesellschaft – zum Zweck und als Ziel (télos) – haben kann.

Unterschreitet das Feld einen bestimmten kritischen Punkt, hat der soziale Raum, aus dem heraus es sich entwickelt, den Zustand einer Entropie, einer Wendung in sich und damit ein Informationsdefizit, erreicht. Dann verwandelt sich Kunst in Dekorum. Ist dagegen ein bestimmter kritischer Punkt überschritten und die Kunst etwa systematisch ideologischen Zwecken unterworfen, befindet sich die mit ihr verbundene Sozietät in einem Ordnungsexzess. Darin wird Kunst zur Propaganda instrumentalisiert.

Die Selbstreferentialität von Kunst als Eigenschaft des Experimentierfeldes kann dem entsprechend nicht von vornherein mit ihrer Entropie gleichgesetzt werden. Denn innerhalb des kritischen Bereichs zwischen Dekorum und Propaganda ist ein Kunstwerk als Ereignis sozialer Kommunikation unvermeidlich politisch. Dort lässt sie sich – sinnvollerweise – mit ethischen, politisch-kritischen Relevanzdiskursen aufladen, widersetzt sich aber allen linearen Definitionen des Politischen. Und dort ist sie auch nicht in Grenzen hegemonialer ästhetischer Ideologien zu pressen, wie das in allen Genres immer wieder versucht wird.

Zusammenfassend formuliert: Kunst ist das wichtigste Testgelände der sozialen, kulturellen Kommunikation einer Gesellschaft, weil es darin vor allem um Emergenzen der Kommunikation selbst und um deren „revoltierende“ Dynamiken geht. Kein Wunder also, dass jedes autoritäre politische System reflexhaft versucht, dieses Testgelände zu kontrollieren, zu beschneiden oder zu eliminieren.

Gesellschaftsarbeit in, an und mit Archiven

Der immaterielle Reichtum jeder Gesellschaft liegt in der menschengerechten Qualität und Pluralität der sie tragenden Kommunikationsdynamiken. Abzulesen ist dieser von ökonomischer und totalitärer Logik abweichende Reichtum an der Lebendigkeit des Testgeländes. Zu dieser Lebendigkeit gehören unverbrüchlich auch alle Archive der Künste. Denn je dynamischer und aktiver das kulturelle Gedächtnis eines politischen Raums und je freier das Testgelände seiner Kommunikation sein kann, desto freier und aktiver ist die in diesem Raum lebende soziale Gemeinschaft.

Weil die Archive Magazine der Kontextualisierung sind, ist die Arbeit an, in und mit ihnen immer politisch und überlebenswichtig für eine freie Gesellschaft – vor allem dann, wenn sich diese Arbeit offensiv in deren Kommunikationen einmischt, indem sie die Archivalien der Kunst dieser Gesellschaft virulent macht und den Zeitläuften gemäß lebendig hält.

Entsprechend hoch ist die Relevanz der Archivierung von Kunstwerken in ihren Dimensionen von Produktion, Publikation, Rezeption und Medialisierung. Die Archivierung folgt dabei anderen Prämissen als jene, die für die unmittelbare Rezeption und die Mittelbarkeit der Medialisierung gelten. Der gesellschaftsimmanente Auftrag an das Archiv, kulturelle Gedächtnisareale zu schaffen und in Fluss zu halten, erreicht die politischen Administrationen meist nur im Sinn der Unterhaltung repräsentativer Archive in Form größerer Institutionen. Dass dies allein selbst in den etablierten Sammlungs- und Vermittlungsbereichen nicht ausreicht, wird immerhin ab und zu andiskutiert.

Archivierung des Ereignisses

Doch die Erfordernisse der Archivierung von ephemeren Kunstformen werden bis dato schlichtweg marginalisiert. Ein folgenschwerer Fehler. Denn gerade in den Performativen Künsten ist das Ereignis als Generator des Gesellschaftlichen in all seinen Aspekten geladen. Hier experimentiert die soziale Kommunikation mit sich nicht auf Basis von medialen künstlerischen Objekten, sondern auf Basis medial gesetzter künstlerischer Handlungen.

Da sich ein Werk der Performativen Künste nicht als seine eigene Archivalie – das sind Trägermedien wie etwa das Buch, der Film oder das Bild – in die Öffentlichkeit übersetzt, ist es ausschließlich in Form seiner Dokumentation im kulturellen Gedächtnis zu erhalten. Dadurch bildet es, was gerne übersehen wird, ein Äquivalent zu der Ereignishaftigkeit jeder sozialen und politischen Realität, von deren Prozesshaftigkeit bis hin zu deren Inszenierungen. Die Archivierung ereignishafter Kunst entspricht also der Archivierung – und damit der Historiografie – der ereignishaften gesellschaftlichen Realität.

Noch dazu haben verschiedene Gesellschaften in rasanter Entwicklung begonnen, sich als performative – inszenatorische und ästhetisierte – Sozietäten zu verstehen, was in den Geisteswissenschaften als der berühmte „Performative Turn“ seinen Niederschlag gefunden hat. Schon aus diesen beiden Gründen macht es Sinn, dem entsprechenden Testgelände der sozialen Kommunikation mit seinem Großbereich der Performativen Künste viel mehr Aufmerksamkeit zu widmen.

Damit aber nicht genug. Denn mit der technologisch-sozialen Revolution der Kommunikationsindustrie ist die Inszenierung des Ereignisses und der Handlung zu einem umfassenden ökonomischen, politischen und medialen Komplex angewachsen, dem die Performativen Künste in ihren wesentlichen, ungebundenen Aspekten deviante Perspektivierungen entgegensetzen.

Performanz des Begehrens

Der Komplex der Kommunikationsindustrie generiert einen intensiven Ausstoß an Ereignis- und Erlebniskonstrukten, die zahllosen, über Marketingstrategien verbreiteten ideologischen Parametern von gebundener Leistung und vorgegebener Effizienz, ästhetischen Normen und Verhaltensmustern, zweckgebundenen Erfahrungs- und Bildungshorizonten folgen und dabei Begehrens-Designs vorgeben, die tief in die Bevölkerungen hineinwirken. Diese Designs erzeugen eine Permanenz des präformatierten Präsens, der Präsenz und der Präsentation. Dabei werden Verbindungen zu Vergangenheit und Zukunft fiktionalisiert und kommodifiziert, werden Zusammenhänge manipuliert, wird Wissen zu Spekulation und Spekulation zu Wissen umgedeutet.

Genau hier, im Spiegelkabinett des Präsentischen, im Konflikt zwischen ästhetischer Gaukelei und Realismus der Wahrnehmung, zwischen „dunkler“ spektaklistischer Fiktion und „ausleuchtender“ kritischer Assoziation, zwischen perzeptiver Ausbeutung und deren radikaler Kritik durch die Deutung des ästhetischen Erlebnisses als Schärfung der Reflexionsfähigkeit, setzt ein Teil des künstlerischen Tanzes an. Dieser erkennt den Körper nicht als bloße repräsentatorische Projektionsfläche, sondern bereits in sich als ein „Archiv“ an, das in Union von Kunst- und Lebenspraxis eine Dynamik aus sozialen, kulturellen, biologischen und psychischen Prozessen wirksam hält.

Der Tanz vereinigt heute eine Unzahl von Methoden und Praktiken, diese Dynamik in Kommunikation zu bringen. In seiner Umsetzung steht er in Austausch mit allen anderen Kunstformen und bringt sie in Relation zu Übersetzungen und Metaphern von sozialen Verhaltensmustern, die wiederum in allen anderen Kunstformen ihre Spuren hinterlassen.

Permanenz des Archivs

Aus diesen Gründen erfordert die Realität dieser Kunstform sowohl die permanente Präsenz ihrer Ereignishaftigkeit als auch das erwähnte Modell des dokumentarischen, kontextuellen Archivs, in dem Werkkörper dargestellt und ihre Zusammenhänge überliefert und aktiv gehalten werden.

An dem bereits existierenden archivarischen Projekt der permanenten Präsenz sind alle Institutionen und Initiativen beteiligt, die choreografische Werke publizieren und ein analoges globales Netzwerk herstellen, in dem nicht nur die Publikation, sondern auch die Pädagogik von Tanz umgesetzt wird. Dieses Netzwerk ist in seiner Art einzigartig. Es ist bisher weder beschrieben, geschweige denn erforscht und in seiner Funktion als präsentisches Archiv noch nicht einmal benannt.

Die Entwicklung eines umfassenden dokumentarischen Archivs folgt der Autopoiese dieses Netzwerks. Denn unter dessen Einfluss hat dieses Archiv begonnen, sich von selbst im Internet zu generieren. Darin publizieren vor allem die KünstlerInnen selbst auf ihren Websites, auf Youtube und Vimeo oder auf Facebook dokumentarisches Material, das überwiegend allgemein zugänglich ist.

Diese rezente Dynamik stellt die nach tradiertem Selbstverständnis aufgebauten institutionellen Archive vor die Herausforderung, sich den geschaffenen Tatsachen offensiv anzuschließen, also ihre Sammlungen zu digitalisieren und ins Netz zu stellen. So kann eventuellen Legitimationsfragen an diese Archive strategisch vorgegriffen und die Akquisition von zusätzlichen Mitteln zur eigentlichen Archivarbeit – systematische Sammlung, Bewahrung, Erhalt und Erschließung der originalen Dokumente – schlüssig im Sinn ihrer kulturellen Gemeinnützigkeit begründet werden.

Die beiden Ebenen des präsentischen und des dokumentarischen Archivkomplexes erlangen vor allem dann gemeinkulturelle Bedeutung, wenn sie sich in vitalem Austausch miteinander befinden. Wenn sie aus den Perspektiven sich verändernder Gegenwarten Ereignisse stimulieren, die das Spiegelkabinett des durch die Kommunikationsindustrie erzeugten Präsentischen herausfordern, indem sie dessen Normen brechen. Daher sind beide Archivkomplexe tatsächlich vor allem als kritische Felder relevant, die nicht nur künstlerische Formen und Inhalte, sondern auch deren Kontexte in die Kommunikationsdynamiken der Gesellschaft einspeisen. In diesem Sinn ist es selbstverständlich auch unerlässlich, Kunstwerke zu reaktivieren, deren Produktion in dunklen Phasen einer Gesellschaft liegt: Als Kunst entropisch oder propagandistisch war.

Zukunft als Erbe

Historische Hinterlassenschaften sind keine Angelegenheiten einer abschließbaren Vergangenheit, sondern solche der Gegenwart und der Zukunft. Kulturelles Erbe wird nicht nur beständig neu reflektiert, sondern auch unablässig neu produziert. Die Autopoiese der Strömungen im System der sozialen Kommunikation ist dabei kein Argument für passives Passierenlassen des Sichereignenden. Da wird Luhmann missverstanden. Im Gegenteil. Sie ist eine Provokateurin für verantwortliches kommunikatives Handeln im Sinn von Jürgen Habermas.

Die sich selbst ereignende und zugleich von Initiativen bestimmte Archivierung von Tanz auf präsentischer und dokumentarischer Ebene hat das Potenzial, die Relektüre der Diskurse zum Spannungsfeld zwischen dem Ereignis des Ereignisses und dem Ereignis der Übermittlung zu entkrampfen. Das kann beispielsweise in einer Neubewertung der historischen Debatte um Peggy Phelan (nein zur Dokumentation) und Philipp Auslander (ja zur Dokumentation) liegen. Das kann aber etwa auch in einer Diskussion des „Rumorens der Archive“ (Wolfgang Ernst), denen Kunst „verschrieben“ ist (Jacques Derrida) als Aktivierung von Aby Warburg für die darstellenden Künste erfolgen.

Alle noch so spezifischen Auseinandersetzungen aber müssen mit dem Ziel geführt werden, die dokumentarischen Archive über die präsentische Ebene zu Aktiva zu machen, sie also als real zu schätzen, ihre Schätze zu nutzen – und in diese Arbeit zu investieren. Also zu handeln, die Dokumente tanzen zu lassen, sie als Präsente ins Präsens zu transportieren, ihnen so eine Evidenz zu verleihen, die sie verfügbar macht für das, was der Tanz exemplarisch in sich geladen hat: ein „Engagez-Vous“ (Stéphane Hessel) als Navigationsmethode aus den Fallen unserer „Müdigkeitsgesellschaft“ (Byung-Chul Han). Was immer das kostet, es wird sich auszahlen. Denn zu erben im Heute ist nicht das Vergangene, sondern die Zukunft.

Dr. Helmut Ploebst

ist Autor und Researcher mit Schwerpunkt Tanz und Choreografie. Tanzkritiker der Tageszeitung Der Standard, Wien. Gründer und Redaktionssprecher der Website CORPUS Internetmagazin für Tanz, Choreografie, Performance. Unterrichtet u.a. Performancetheorie am Institute for Dance Arts (IDA) der Anton-Bruckner-Privatuniversität, Linz, sowie Kunst-, Medien- und Kommunikationsästhetik am Institut für Kulturmanagement (IKM) der Universität für Musik und darstellende Kunst, Wien. Gastdozent am HZT Berlin. Lebt und arbeitet in Wien.



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