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> ESSAY: UNVOLLSTäNDIGKEIT ALS CHANCE

Unvollständigkeit als Chance.
Zum historischen Anspruch im Tanz

"Alles ist nicht zu haben", stellt der Tanzwissenschaftler und Publizist Franz Anton Cramer fest. In diesem Kurzessay denkt er über die Rolle der Archive, Potentiale des Vergessens und die Re-Subjektivierung von Tanzwissen nach.

von Franz Anton Cramer Foto: Diethild Meier

In einem siebenseitigen maschinenschriftlichen Text hat Mary Wigman für ihre Schüler die Geschichte des Tanzes zusammengefasst. Von den italienischen intermezzi über die höfischen Ballette in Frankreich, das ballet d’action und die Kompanie um Serge de Diaghilev geht es zu den Erneuerungen des modernen Tanzes. Wigmans Materialsammlung ist überschrieben: „Betreff: Tanzgeschichte“ und im Archiv der Akademie der Künste Berlin einzusehen. Viereinhalb Jahrhunderte auf sieben Schreibmaschinenseiten: Auch das ist Geschichtsschreibung.
Die Geisteswissenschaft der 1980er Jahre hat den Begriff der „Großen Erzählung“ geprägt: Deutungs- und Darstellungssysteme, die im Denken und in der Kultur Zusammenhänge herstellen und Orientierung bieten, dabei aber immer auch verfälschen. Denn „Große Erzählungen“ – und damit natürlich auch alle Geschichtsschreibung – zeichnen sich vor allem dadurch aus, Tatsachen und Merkmale wegzulassen, auszublenden und zu verdrängen. Das ist auch einer der Hauptvorwürfe gegen die Tanzhistoriographie, wie sie bislang versucht worden ist.
Indem man sich an den Großen Namen orientiert, die in einer Art Diskursmechanismus immer wieder als Große Namen statuiert werden, übergeht man die Tatsache, dass zu diesen „Großen“ immer auch eine ganze Schar von Kleinen gehört. Der gesamte Kontext der Kunst, so wie er sich seit der Neuzeit im abendländischen Raum entwickelt hat, drängt einzelne Figuren in den Vordergrund. Viel aussagekräftiger ist aber womöglich der Mittel- und Hintergrund: Die Schulen und die Lehrer, die Techniken und Methoden der Ausbildung, die wirtschaftliche Lage und die Unterhaltungsindustrie, das soziale Ansehen der Kunst bzw. der Einzel-Künste und die erotische Fähigkeit der Gesellschaft, der Einfluß von Medien auf das Sehen und das Zeigen, die Möglichkeiten der Kommunikation und des Austauschs, die Schönheitsbegriffe, die Rhythmusvorstellungen, die Rollenbilder und die Machtverhältnisse – ohne diese Gesamtheit ist das Einzelne der Kunst, und natürlich auch der Tanzkunst, nicht verständlich und habhaft zu machen.

Archive

Zum Glück hat es schon immer Sammler gegeben. Die Geldgeber, die Künstler, das Publikum, die Institutionen des Tanzes: Alle haben versucht aufzubewahren, was der Tanz ihnen gegeben, was er sie gekostet, was er für sie bewirkt hat und wie er zustande gekommen ist. Diese Sammlungen haben ein eigenes Leben, sie sind gewachsen, sie sind verloren gegangen, verringert, erweitert, verändert worden, sie sind politisch gefördert oder finanziell unterdrückt worden. Aber sie haben durchgehalten – die Archive, um die Spuren des Gewesenen zu bewahren, zu ordnen und zum Sprechen zu bringen. Mehr oder weniger systematisch, oft ausgehend von den privaten Vorlieben der Gründungsfiguren, sind solche Sammlungen ein wertvoller Bezugspunkt, um dem Ungesehenen auf die Spur zu kommen und sich ein Bild zu machen von der Vergangenheit.
Eine der frühesten Einrichtungen diese Art war das internationale Tanzarchiv in Paris, das 1931 seine Tätigkeit aufnahm. Auch die ungarisch-österreichische Tänzerin und Pädagogin Friderica Derra de Moroda begann schon in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, ihre umfangreiche Studiensammlung anzulegen, die heute der Universität Salzburg angegliedert ist. Der einflußreiche deutsche Journalist Fritz Böhme erhielt vom nationalsozialistischen Regime den Auftrag, ein staatliches Archiv für Tanz zusammenzutragen, das allerdings bei einem Fliegerangriff auf Berlin in Flammen aufging. Nach dem Krieg gründete die Regierung der DDR 1957 in Leipzig ein staatliches Tanzarchiv, das in veränderter Form bis heute besteht.
Derzeit sind es in Deutschland im Wesentlichen die fünf Mitgliedsinstitutionen des Verbund Deutsche Tanzarchive, die in Bremen, Köln, Leipzig und Berlin Quellen zur Vergangenheit – und übrigens auch zur Gegenwart – des Tanzes verwahren und zum Sprechen bringen. Zudem haben viele Künstler Dokumente über, ihre Arbeitsweise und ihre Biographie aufbewahrt, die nach und nach an sammelnde Institutionen gegeben werden. In Frankreich gibt es, in Europa wohl einzigartig, ein Nationales Zentrum für Tanz, das sich ganz explizit mit der Pflege solcher Künstlerarchive befaßt und in großem Stile verfügbar macht.

Konstruktion

Aus allen diesen Quellen und Beständen lässt sich vieles ablesen zum Gewesenen des Tanzes. Nur eines bieten sie nie: Vollständigkeit. So groß die Sammlungen auch sein mögen, so penibel sie Eintrittskarten, Autogrammphotos, Presseartikel, Partituren und Programmhefte erschließen – ohne Lücken geht es nicht. Denn alles Überliefern muß weglassen. Und somit wird die Geschichte ebenso lückenhaft überliefert, wie die Gegenwart stets unvollständig wahrgenommen wird. Selbst im Zeitalter des Digitalen, wo Google oder Facebook ihre monströsen Projekte einer Historiographie in Echtzeit betreiben und die ganze Welt auf Servern speichern wollen, selbst in dieser Schönen Digitalen Welt können die „Sozialen Netzwerke“ nur nachweisen, was ihnen auch zur Kenntnis gebracht wurde. Das Mangelhafte ist also Bedingung, wesentlicher Bestandteil, ja ein konstitutives Element der Wirklichkeitserfahrung. Wenn aber schon die Gegenwart nur eine Komposition aus zufällig Gesammeltem, Wahrgenommenem und Verstandenem ist, um wie viel mehr muss dann auch die Geschichte als ein Netz aufgefaßt werden, in dem sich manches verfängt, das meiste aber verliert. Frei nach Ludwig Wittgenstein könnte man sagen: Die Geschichte ist das, was im Netz der Archive hängen bleibt, welches man über die Wirklichkeit geworfen hat.

Quellen und Bilder

Wenn man also hinnehmen muß, dass die Zeugnisse des Vergangenen nur ein lückenhaftes Bild geben können, dann bedeutet das nicht, alle Aussagen zur Geschichte wären hinfällig. Denn gerade weil auch die Gegenwart nie in ihrer ganzen Komplexität erfasst werden kann, ist die Geschichte eine Art Destillat des Realen. Gern wird geklagt, dass gerade im Tanz zu viele Fakten – zu den Fakten zählen natürlich auch und vielleicht sogar zuallererst die Werke, die Tanz-Aufführungen – vergessen sind. Dadurch drängen sich diejenigen Ereignisse, von denen Quellen überliefert sind, ungebührlich in den Vordergrund. Immer dieselben Bilder, Filme und Objekte werden in Ausstellungen gezeigt (jüngst in der Pariser Ausstellung „Danser sa vie“) und in Büchern veröffentlicht. Aber umgekehrt ist es ein großes Glück, dass wenigstens die raren Filmdokumente einer Loïe Fuller, einer Mary Wigman, einer Anna Pavlova, ja sogar die 20 Sekunden Gartenparty mit Isadora Duncan uns heute zur Verfügung stehen! Und wie sehr bedauern wir immer wieder neu, dass es solche Filmschnipsel nicht auch von Vaslav Nijinsky gibt oder von den originalen Ballets russes! Es wäre sinnlos, wegen des Mangels an Masse und Vollständigkeit die wenigen realen Dokumente nicht heranzuziehen, nur weil es eine Privilegierung des Vorhandenen gegenüber dem Verlorenen wäre. Niemand bezweifelt, dass der Tanz mehr zu bieten hatte als das, was von ihm überliefert ist. Dennoch ist die Überlieferung im Dokument (Film, Schrift, Zeitzeugenbericht) das Einzige, worauf man bauen kann. Von der Phantasie einmal abgesehen.

Geschichte und Vergessen

Geschichte und Vergessen gehören zusammen. Ebenso wie Quelle und Deutung zusammengehören. Geschichte wäre überhaupt nicht, wenn es nicht die Möglichkeit zum Vergessen gäbe. Aber natürlich ist damit nicht gesagt, dass in diesem Prozess der Geschichte auch Wahrheit entsteht. Wenn Geschichtsschreibung auf Wahrheit zielt, weil sie herausfinden will, „wie es wirklich war“, dann steht sie, jedenfalls mit Blick auf den Tanz, vor einem Dilemma: Die Wirklichkeit der künstlerischen Erscheinung ist durch Subjektivität gebunden – Subjektivität der Künstlerin, des Betrachters –, so dass sich „Objektivität“ kaum herstellen läßt. Und Vollständigkeit schon gar nicht. Was aber durchaus möglich bleibt, ist die Aneignung, die „Re-Subjektivierung“.
In Interpretation, Umformulierung, Collage oder Rekonstruktion von vergangenen Ereignissen kann erneut jene Subjektivität entstehen, deren Vollständigkeit erst das Künstlerische ausgemacht hat und wieder ausmachen wird. Geschichte kann daher gar nicht lückenlos sein; sondern sie braucht das Subjektive – und das ist immer nur an Teilen, an Ausschnitten, an Einzelheit orientiert. Vollständig ist es nur im Sinne der Kunst: als komplexes Gebilde aus historischem Wissen, subjektivem Interesse, aus Affekt, Gestaltung und Vor-Stellung. Wir stellen uns die Geschichte vor, indem wir die Gegenwart vorstellen. Das ist der Auftrag der Archive, hier liegt ihr Potential. Und das ist unerschöpflich.

Dr. Franz Anton Cramer

ist Tanzwissenschaftler, Philologe und Publizist. 2003 und 2004 war er  kommissarischer Geschäftsführer am Tanzarchiv Leipzig, danach Forschungsstipendiat am Centre national de la danse, Frankreich. 2006 war er für die Entwicklung des Pilotstudiengangs „Zeitgenössischer Tanz, Kontext, Choreographie“ im Rahmen des Hochschulübergreifenden Zentrums Tanz Berlin zuständig, wo er seit 2008 eine Gastprofessur innehat. Von 2007 bis 2011 war er Projektkoordinator "Kulturerbe Tanz" für Tanzplan Deutschland und als solcher für die Entwicklung des Datenbankmodells „Tanz im Internet / Digitaler Atlas Tanz“ zuständig.

 

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